Arnaud Boisset ist in Martigny VS in einer ganz besonderen Umgebung aufgewachsen. Rund 200 Meter von seinem Elternhaus entfernt betreibt Abfahrts-Altmeister Roland Collombin (72, Olympia-Silbergewinner 1972, acht Weltcupsiege) das Restaurant «La Streiff». Und genau 50 Jahre nach dem zweiten Streif-Sieg seines legendären Nachbarn hat Boisset im letzten Winter selber am berüchtigten Kitzbühler Hahnenkamm Aussergewöhnliches geleistet.
Mit Startnummer 53 wurde der 26-Jährige bei der zweiten Zwischenzeit mit lediglich 14 Hundertstel auf die Bestzeit des Franzosen Cyprien Sarrazin abgewunken, weil am Hausberg ein Rutscher am Boden lag. Die meisten Rennfahrer wären in einer vergleichbaren Situation auf der gefährlichsten Abfahrt der Welt mental gebrochen. Ganz anders Boisset.
Nachdem der Walliser mit dem Helikopter zurück an den Start geflogen war, lieferte er bis zur vierten Zwischenzeit eine sensationelle Leistung ab – er war schneller als Sarrazin! Am Hausberg hat der Mann mit dem pinken Rennhelm zwar eine Sekunde liegengelassen, dennoch feierte Boisset im Ziel als Neunter seine erste Top-10-Klassierung im Weltcup. Acht Wochen später gelang ihm beim finalen Super-G in Saalbach als Dritter sogar der Sprung aufs Podest.
Aussergewöhnliche Eigenschaften
Zürichs Weltklasse-Abfahrer Niels Hintermann, der derzeit mit der Chemo-Therapie den Lymphdrüsen-Krebs bekämpft, sagte im Juli bei einem Mittagessen zum Blick-Reporter: «Ich bin mir ziemlich sicher, dass Arnaud mittelfristig zum stärksten Herausforderer von Marco Odermatt im Super-G avancieren wird.»
Ausgerechnet Odermatts Jugendfreund und WG-Kollege Gabriel Gwerder soll mithelfen, dass es tatsächlich so weit kommt: Der gebürtige Schwyzer mit Geschäftssitz in Stans ist seit dem letzten Jahr Boissets Konditionstrainer. «Arnaud weiss, dass er noch einige Dinge besser machen muss», betont Gwerder, bevor er ein dickes Lob ausspricht. «Ich bin immer wieder beeindruckt, mit welcher Konsequenz Arnaud seine Vorhaben in die Tat umsetzt. Zudem legt er für sein junges Alter eine erstaunliche Reife an den Tag. Boisset ist ein gewiefter Taktiker.»
Die strategische Denkweise fördert der Speed-Spezialist mit dem abgeschlossenen Wirtschaftsstudium auch in seinem Nebenjob. Boisset: «Ich arbeite im Sommer für eine Privatbank in Genf. Das ist für mich der perfekte Ausgleich zum Skisport. Wenn ich als Banker ganz normal zwischen Montag und Freitag arbeite, schätze ich im Winter das aussergewöhnliche Leben im Ski-Zirkus umso mehr.»
Prestige-Erfolg gegen Marc Hirschi
Im letzten Sommer musste Boisset aufgrund einer Tibiaplateaufraktur am rechten Knie jedoch eine längere Ski-Pause einlegen, als ihm lieb war. «Es passierte am dritten Ski-Tag im August. Ich habe im Riesenslalom-Training klassisch eingefädelt. Das war ein komplett unnötiger Fehler von mir.»
Obwohl Boisset nach diesem Fauxpas nicht mit seinen Teamkollegen ins Trainingscamp nach Südamerika reisen konnte, scheint er rechtzeitig für den Speed-Auftakt in Beaver Creek in Top-Form zu kommen. «Arnaud hat in den letzten Wochen einige vielversprechende Trainingsleistungen abgeliefert», bestätigt Swiss Ski-Speedchef Reto Nydegger.
Aussergewöhnlich waren auch die Leistungen, die Boisset in seiner Jugend in einer andern Sportart abgeliefert hat. «Ich bin während einiger Jahre zusammen mit meinem Jugendfreund Antoine Radrennen gefahren. Und einmal habe ich sogar Marc Hirschi besiegt», grinst Boisset und schildert die Details: «Ich war in diesem Rennen der Helfer von Antoine, plötzlich bildeten wir zusammen mit Hirschi eine Fluchtgruppe. Im Zielsprint war mein Kumpel Antoine klar der Stärkste. Und als ihm der Sieg nicht mehr zu nehmen war, habe ich Hirschi übersprintet. Wenn ich bedenke, dass Marc in der Zwischenzeit bei der Fleche Wallone triumphiert und eine Etappe bei der Tour de France gewonnen hat, ist das für mich schon etwas Besonderes.»
Pink-Fondue für die Fans
Besonders stolz ist Boisset auch auf die Tatsache, dass sich die Anzahl seiner Fanclub-Mitglieder im letzten Winter von null auf 800 erhöht hat. «Das ist richtig cool. Ich habe nie damit gerechnet, dass ich in so kurzer Zeit, derart viele Fans gewinnen kann. Und weil ich jetzt eine grosse Community vorweisen kann, bin ich auch für Sponsoren interessanter geworden.» Zum Dank serviert Boisset seinen Anhängern bei den Fanclub-Treffen ein pinkes Käse-Fondue. «Ich habe in die Käsemischung Randenpulver beigemischt. Es hat sensationell ausgesehen.»
Zum Abschluss liefert Boisset die Erklärung, warum ihm diese Farbe so wichtig ist: «Zum einen gefällt mir Pink. Zudem kann ich mich mit dieser Farbe marketingtechnisch abheben, schliesslich bin ich im Weltcup der einzige Abfahrer, der mit einem Pink-Helm fährt.» Er ist tatsächlich ein besonderer Stratege, dieser Arnaud Boisset.