Es ist die grösste Herausforderung für jeden jungen Abfahrer – die Premiere auf der berüchtigten Streif! Es beginnt mit den Räubergeschichten, welche sich die Debütanten bereits bei der Hotel-Ankunft anhören müssen. «Ein erfahrener Teamkollege hat zu mir gesagt, dass ich den Koffer gar nicht auspacken solle, weil ich ja sowieso bald im Spital landen würde», erzählt der Schönrieder Bruno Kernen, welcher 1983 in Kitzbühel triumphierte.
Selbst Didier Cuche, mit fünf Erfolgen Rekordsieger der Hahnenkamm-Abfahrt, läuft es auch heute noch eiskalt den Rücken hinunter, wenn er an sein erstes Mal zurückdenkt. «Das war 1996. Ich konnte mir nach der ersten Besichtigung der Strecke wirklich nicht vorstellen, dass man im Renntempo heil ins Ziel kommt. Ich zog es vor meiner ersten Trainingsfahrt ernsthaft in Betracht, mit der Gondel ins Tal zu fahren. Die Trainer mussten mich zum Start überreden. Ausfahrt Steilhang lag ich schon fast im Netz, konnte mich gerade noch retten und erreichte das Ziel mit acht Sekunden Rückstand. Das war mir total egal, ich jubelte wie nach einem Sieg!»
«Das ist brutal steil!»
28 Jahre später befindet sich «Speediers» Neffe Rémi Cuche in dieser ungemütlichen Situation. Nach dem zweiten Rang beim Europacup-Super-G in Saalbach (Ö) hat der 23-jährige Neuenburger von Cheftrainer Tom Stauffer das erste Aufgebot für den ersten Weltcup-Einsatz in Kitzbühel erhalten.
Vor der ersten Trainingsfahrt schaut sich Rémi mit seinem berühmten Onkel Videos von der gefährlichsten Abfahrt der Welt an. «Didier hat mir viele sehr wertvolle Tipps mit auf den Weg gegeben.» Bei der Streckenbesichtigung muss der junge Cuche genau wie die beiden anderen Schweizer Streif-Debütanten Christophe Torrent und Franjo von Allmen ein paarmal leer schlucken. «Das ist schon brutal steil», denken sich die Neulinge beim Blick in die Mausefalle.
Didier Cuche hat seinem Neffen am Vorabend eingetrichtert, dass er vor seinem Start ja nicht zuschauen sollte, wie die Vorfahrer in die Mausefalle springen, weil «dieser Anblick furchterregend ist». Während sich Rémi strikt an diesen Ratschlag hält, positioniert sich Franjo von Allmen beim Trainingsbeginn neben dem Starthaus auf dem Balkon vom Athleten-Campus. Von hier aus ist der Blick in die Mausefalle besonders beängstigend.
Der 22-jährige Berner Oberländer lässt es sich trotzdem nicht nehmen, ein paar Fahrer aus der ersten Startgruppe von hier aus zu beobachten. Dass von Allmen ein aussergewöhnlicher Typ ist, hat er in seinem ersten richtigen Winter schon ein paarmal bewiesen. Nach dem zwölften Rang in Val Gardena ist der gelernte Zimmermann letzte Woche am Lauberhorn zweimal in die Top-15 gefahren.
Drei Stockstösse gegen eine Runde Bier
Und nun will «FvA» bei seinem ersten Streifzug die berühmte Start-Challenge gewinnen. Die Regeln sind einfach: Wenn ein Streif-Debütant nach dem Start mit weniger als drei Stockstössen anschiebt, muss er am Abend im Team-Hotel eine Runde Bier ausgeben. Von Allmen schiebt mit der Nummer 34 sogar viermal an und schwingt im Ziel mit der 48. Zeit ab. «Ich habe nicht wirklich viel riskiert, aber im Grossen und Ganzen war es eine sehr coole Erfahrung.»
Rémi Cuche ist mit der Nummer 68 an der Reihe. Das «Streif-Greenhorn» wird seinem grossen Namen grösstenteils gerecht, er meistert seine Jungfernfahrt über den Hahnenkamm ohne gröberen Zwischenfall. In der Endabrechnung verliert er auf die Bestzeit von Kanadas WM-Bronze-Gewinner Alexander Cameron 4,59 Sekunden. Das sind knapp dreieinhalb Sekunden weniger, als Onkel Didier bei seiner Premiere eingebüsst hat. «Ich war am Start wirklich extrem nervös», gibt der «neue» Cuche zu. «Aber dann ist es wirklich fürs erste Mal ganz gut gegangen. Aber natürlich muss ich an meiner Linienwahl noch ordentlich feilen.»
Die Frage, ob auch er die Kitz-Start-Challenge bestanden hat, kann Rémi Cuche jedoch nicht klar beantworten: «Ich habe zwar das Gefühl, dass ich keine Runde bezahlen muss. Aber um sicher zu sein, ob ich nach dem Start mit drei Stöcken angeschoben habe, muss ich mir das Video anschauen.»