Blick: Marco Odermatt, die kleine Kugel für den Sieg im Riesenslalom-Weltcup haben Sie jetzt auf sicher. Nehmen Sie auch schon die Gratulation für die grosse Kugel an?
Marco Odermatt: Die Gratulation für den Sieg im Gesamtweltcup nehme ich an, sobald ich 300 Punkte vor Aleksander Kilde liege. Derzeit sind es 269.
Kilde braucht beim Weltcupfinale neben Siegen in der Abfahrt und im Super-G mindestens einen zweiten Rang im Riesenslalom, um rein mathematisch Sie noch einholen zu können. Und der Norweger hat in diesem Winter noch keinen einzigen Riesen bestritten.
Stimmt. Dass er aber sehr gut Riesen fahren kann, hat er letzte Saison nicht zuletzt mit einem vierten Rang in Adelboden gezeigt. Und wer Vierter wird, kann genauso gut aufs Podest fahren.
2016 sichert sich der in Buochs NW aufgewachsene «Odi» die erste von sechs Goldmedaillen bei der Junioren-WM. Sieben Monate später setzt er sein erstes Ausrufezeichen auf der grossen Skibühne – in Sölden fährt er in seinem zweiten Weltcup-Einsatz auf den 17. Rang. 2019 steht er beim Riesen in Kranjska Gora als Dritter erstmals auf dem Podest. Im Dezember feiert er dann beim Super-G in Beaver Creek den ersten Weltcupsieg. Kaum zu toppen ist dieser Winter: In 21 Weltcup-Rennen realisiert er sieben Siege und sechs zweite Ränge. Hinzu kommt die Goldmedaille beim Olympia-Riesenslalom.
2016 sichert sich der in Buochs NW aufgewachsene «Odi» die erste von sechs Goldmedaillen bei der Junioren-WM. Sieben Monate später setzt er sein erstes Ausrufezeichen auf der grossen Skibühne – in Sölden fährt er in seinem zweiten Weltcup-Einsatz auf den 17. Rang. 2019 steht er beim Riesen in Kranjska Gora als Dritter erstmals auf dem Podest. Im Dezember feiert er dann beim Super-G in Beaver Creek den ersten Weltcupsieg. Kaum zu toppen ist dieser Winter: In 21 Weltcup-Rennen realisiert er sieben Siege und sechs zweite Ränge. Hinzu kommt die Goldmedaille beim Olympia-Riesenslalom.
Okay, dann lassen Sie uns über die gesicherte Riesenslalom-Kugel reden. Wo ordnen Sie diese Trophäe in Ihrem Erfolgsranking ein?
Von der sportlichen Leistung her ist es sicher das Grösste, was ich bis jetzt erreicht habe. Trotzdem fehlen mir derzeit die Emotionen zu dieser Kugel. Ich kann nicht richtig jubeln. Das ist ein Beweis dafür, dass mir langsam, aber sicher die Energie ausgeht.
Körperlich wirken Sie aber auch im Schlussspurt dieser Saison noch sehr frisch.
Körperlich habe ich tatsächlich eine geniale Saison, mir hat fast nie etwas wehgetan, meine Knie sind in einem perfekten Zustand. Aber ich spüre eine starke mentale Müdigkeit. Ich habe seit dieser Woche wie eine Scheibe im Kopf. Ich brauche im Saison-Endspurt viel mehr Energie, um mich zu fokussieren.
Ganz ehrlich: Fanden Sie es lässig, dass Michelle Gisin in Peking in Interviews Details von der Bier-Party nach Ihrem Olympiasieg ausgeplaudert hat?
Nein, ich habe das im erste Moment nicht ganz verstanden. Ich habe mir dann aber gesagt, dass es eigentlich egal ist. Wenn man gerade Olympiasieger geworden ist, wird kaum jemand ein Problem mit mir haben, weil ich ein Bier trinke. Ich möchte dennoch festhalten: Meine Medaillen-Feier war weit weg von einem «Vollsuff».
Wie lief sie denn ab?
Im olympischen Dorf gab es keine öffentlichen Restaurants. Wir sassen zu viert oder fünft im Aufenthaltsraum unseres Teams, tranken ein paar Bier und hörten Musik. Weil Michelles Zimmer an diesen Aufenthaltsraum grenzte, hat sie sich irgendwann für eine halbe Stunde zu uns gesetzt. Aber ich glaube nicht, dass sie böse war, weil wir zu vorgerückter Stunde noch etwas lauter waren. Und ihre Aussagen danach waren sicher auch nicht böse gemeint.
Sie haben uns in diesem Winter serienweise verblüfft. Bei welchem Rennen haben Sie sich selber überrascht?
Eine Überraschung stellt für mich die Konstanz dar, die ich auf diesem hohen Niveau halten kann. Vor allem meine Riesenslalom-Serie mit fünf Siegen in sieben Rennen. Meine allergrösste Überraschung war aber die Wengen-Woche mit dem Sieg im Super-G und dem zweiten Rang in der Abfahrt. Man hört ja immer, dass speziell das Brüggli-S besonders viel Erfahrung braucht. Es gibt Routiniers, die diese Passage bereits 20-mal gemeistert haben. Darum habe ich nicht geglaubt, beim ersten Mal mitzuhalten.
Sie haben nach dem Super-G in Kvitfjell öffentlich die Frage gestellt, warum Ihr Trainer, der als Kurssetzer ausgelost worden war, nicht mehr technische Elemente in den Lauf eingebaut hat. Haben Sie eine Antwort erhalten?
Nein, ich habe Kvitfjell unmittelbar nach dem Super-G verlassen, um in Oslo den Flieger zu erreichen. So blieb mir keine Zeit für längere Gespräche mit den Trainern. Aber wir müssen jetzt nicht mehr auf diesem Thema herumreiten. Kilde hätte wohl auch auf einem technisch schwierigeren Kurs gewonnen. Er ist der beste Super-G-Fahrer der Saison. Aber es bleibt für mich ein bisschen ein Déjà-vu.
Warum?
Es war ähnlich wie beim letzten Weltcup-Finale auf der Lenzerheide, wo ich gegen Alexis Pinturault um die grosse Kugel kämpfte. Auch in Kvitfjell hatten wir Schweizer es in den eigenen Händen, etwas dafür zu tun, damit das unmöglich Erscheinende vielleicht noch möglich wird. Und ich bin der Meinung, dass man in beiden Fällen nicht das Optimum herausgeholt hat. Zumindest für mich nicht. Man sollte nicht vergessen: Für Beat Feuz und Niels Hintermann in Kvitfjell hat die Kurssetzung im Super-G perfekt gepasst. Beat war Fünfter und Niels hat als Neunter sein bestes Karrieren-Ergebnis in dieser Disziplin herausgefahren. Aber eben, ich war der einzige Schweizer, der noch die Chance auf die Super-G-Kugel hatte. Deshalb stellte ich mir zumindest ein «birebitzeli» die Frage, warum man den Kurs nicht mehr auf meine Qualitäten ausgerichtet hat.
Nun gibt es zwei Lager in der Ski-Schweiz. Die Mehrheit findet es grandios, dass Sie klar aussprechen, was Sie denken. Andere bezeichnen Sie als schlechten Verlierer.
Ich habe in den Interviews ganz anständig und sachlich gesagt, dass die Kurssetzung nicht für mich war. Und ich habe ja gegen niemanden scharf geschossen. Zudem habe ich Kilde von ganzem Herzen gratuliert.
Was war für Sie diese Saison eigentlich schwieriger: schnell Ski zu fahren oder dem Coronavirus auszuweichen?
Skifahren kann ich selber beeinflussen, Corona nicht. Ich muss zugeben: Covid war lange kein so grosses Thema in unserer Gruppe. Wir haben nicht übertrieben darauf geachtet. Das hat sich ein paar Wochen vor den Olympischen Spielen komplett verändert, als jedem klar war, dass ein positiver Test das Out bedeuten kann. In dieser Phase wurde ich ein bisschen paranoid, hatte das Gefühl, die Gefahr lauere hinter jeder Ecke.
Stimmt es, dass Ihr Kumpel Gabriel Gwerder im Januar aus der gemeinsamen WG auszog, um die Gefahr einer Covid-Ansteckung zu minimieren?
Auszog ist nicht ganz korrekt. Er hat bei seinem Arbeitgeber unbezahlten Urlaub genommen und ist in die USA gereist, um ein paar NHL-Spiele zu sehen. Es hat sich in dieser Zeit alles sehr gut ergeben.
Sie zahlen in dieser WG eine Miete von 450 Franken. Leisten Sie sich nach dieser auch finanziell grandiosen Saison nun den Bau eines schönen Hauses?
Diesbezüglich tut sich etwas. Aber weil es noch eine Weile dauert, bis alles unter Dach und Fach ist, ziehe ich im Frühling aus der WG aus und beziehe eine Übergangswohnung im Kanton Nidwalden.
In den letzten Wochen haben wildfremde Menschen an der Türe Ihres Elternhauses geklingelt, um zu sehen, wo und wie Superstar Odermatt aufgewachsen ist. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Ja, schon ein bisschen. Der ganze Rummel hat sich anfänglich vor allem auf meine Person reduziert. Damit muss ich als Profi umgehen können. Aber jetzt spüre ich, dass es meine Mitmenschen immer mehr belastet. Ich denke da vor allem an meinen Dädi, der neben seinem Hauptberuf als Ingenieur einen grossen Teil seiner Freizeit in die Bearbeitung meiner Fanpost investiert. Das ist anstrengend. Möchte jemand eine Autogrammkarte und schickt ein frankiertes und adressiertes Couvert an uns, kann Dädi das in zehn Sekunden erledigen. Aber viele Wünsche erreichen uns ohne frankiertes Couvert, ohne Adresse. Viele Fans wünschen sich neben einer Autogrammkarte auch noch eine Startnummer oder ein Renndress. Ich würde gerne jedem eine Startnummer schicken, aber leider bestreite ich pro Saison nicht mehr als 30 Rennen.
Gab es nach Ihren Erfolgen Reaktionen, die Sie besonders überrascht haben?
Ich durfte viele sehr schöne Reaktionen in Empfang nehmen. Besonders witzig war die Gratulation von Carlo Janka.
Inwiefern?
Nach meinem Olympiasieg im Riesen schaltete das SRF live zu Carlo. Er behauptete, er habe sich für den ersten Lauf morgens um 3 Uhr wecken lassen. Ich habe live meine Zweifel geäussert, ob ein Ski-Rentner für einen ersten Lauf so früh den Wecker stellt. Nach der Sendung hat mir Carlo per SMS bestätigt, er sei erst für den zweiten Lauf aus dem Bett gekrochen.
Janka war nicht nur der letzte Schweizer, der vor Ihnen Riesenslalom-Olympiasieger war, er war auch der letzte Schweizer Gesamtweltcupsieger. Was haben Sie von ihm gelernt?
Die Ruhe, die er auch in den stressigsten Momenten an den Tag legte, ist schon bemerkenswert. Aber allzu oft war ich mit Carlo nicht unterwegs. Er gehörte zur Speed-Gruppe – ich zu den Technikern. Wir haben wahrscheinlich kein einziges Training zusammen absolviert. Und in meinem ersten Weltcup-Jahr habe ich mich nicht so recht getraut, mit dem Team-Ältesten zu plaudern. Zuletzt hat er aus gesundheitlichen Gründen oft gefehlt. Trotzdem habe ich wunderbare Momente mit ihm erlebt. Der Mann, der im TV oft sehr trocken rüberkommt, ist privat ein extrem humorvoller, sympathischer Mensch. Gewinne ich den Gesamtweltcup, werde ich Carlo wahrscheinlich anrufen, damit er mir ein paar Tipps gibt, wie man am besten mit der Rolle als Gesamtweltcupsieger umgeht.
Ein Tipp hat Ihnen Janka vor dem Olympia-Riesenslalom übermittelt – ein Rennfahrer sollte während der Saison die Berichterstattung in den Medien ignorieren. Machten Sie das?
Zwei Tage vor dem Riesenslalom habe ich wirklich nichts mehr gelesen. Aber in einer normalen Woche interessiert es mich schon, was alles berichtet wird. Solange die Ergebnisse stimmen, sowieso. Wenn es wie im Fall von Gisins Bier-Artikel ein paar unqualifizierte Leserkommentare gibt, lässt das einem nach dem Gewinn von Olympia-Gold kalt. Aber ich kann mir vorstellen, dass dieselben Kommentare in Zeiten, wo die sportlichen Leistungen nicht so berauschend sind, enorm wehtun.
Wie stark beschäftigt Sie der Krieg in der Ukraine?
Ich informiere mich am Abend meistens in der Sendung «10 vor 10». Auf mich wirken diese Bilder total surreal. Ich fühle mich zurückversetzt in den Geschichtsunterricht in der Primarschule, wo man uns Kriegsvideos gezeigt hat. Ich dachte damals, dass es so etwas in Europa nie mehr geben wird. Deshalb ist es für mich schockierend und surreal zugleich, dass dieser Krieg nun doch Tatsache ist. Und ich fühle mich machtlos, glaube nicht, dass ich mit einem Instagram-Posting irgendetwas Positives für die Ukrainer bewirken kann. Aber selbstverständlich unterstütze ich jede politische Idee, mit der diesen Leuten geholfen wird.
Simon Ammann hat sich gegen den Ausschuss der russischen Skispringer ausgesprochen. Haben Sie Verständnis, dass Russlands Sportler fast von allen sportlichen Grossveranstaltungen ausgeschlossen werden?
Nein, ich konnte das am Anfang nicht begreifen. Schliesslich können russische Athleten wie zum Beispiel Slalom-Spezialist Alexander Choroschilow rein gar nichts für die brutalen Entscheidungen von Putin. Ich sagte unserem Cheftrainer Tom Stauffer, dass ich diesen Ausschluss als unfair taxiere. Er hat mir dann erklärt, dass sich die Ski-Verbände gleich entschieden hätten, um die Athleten der anderen Nationen zu schützen. Es könnte ja sein, dass plötzlich an einem Weltcuprennen mit russischer Beteiligung Attentate verübt werden. Seitdem kann ich diesen Ausschluss zwar noch nicht zu hundert Prozent nachvollziehen, aber ich habe ein wenig mehr Verständnis.