Seit 50 Jahren sind sie der Inbegriff erfolgreicher Schweizer Winterspiele: die goldenen Tage von Sapporo 1972. Marie-Theres Nadig (gleich doppelt), Bernhard Russi und der Viererbob mit Jean Wicki, Hans Leutenegger, Werner Camichel und Edy Hubacher sorgten für einen Schweizer Goldregen.
Fünf Dekaden später jubelt die Sport-Schweiz über die goldenen Tage von Peking. In der Corona-Blase in und rund um die chinesische Metropole haben die Schweizer Athleten Grosses vollbracht: 7 Goldmedaillen hat die rot-weisse Delegation bis am Samstagabend eingefahren, dazu 2-mal Silber und 5-mal Bronze. So stark waren wir im Medaillenspiegel noch nie.
Nun werden ein paar Spassverderber einwerfen: Es waren doch früher viel weniger Wettbewerbe! Die Chancen, in diesem Jahr 14 oder 15 Olympiamedaillen zu holen, sind grösser als 1988, als das den Schweizern in Calgary (5 x Gold, 5 x Silber, 5 x Bronze) erstmals gelang. Stimmt ja auch. Gab es in Kanadas Westen damals in 46 Wettkämpfen 138 Medaillen zu gewinnen, sind es in Peking bei 109 Entscheidungen bereits 327.
Doch klar ist auch: Die Medaillen, die die Schweiz geholt hat, sind nicht billig. Mit Beat Feuz, Lara Gut-Behrami, Marco Odermatt oder Michelle Gisin haben Schweizer und Schweizerinnen in Abfahrt, Super-G und Riesenslalom abgeräumt, in umkämpften alpinen Ski-Disziplinen. Jan Scherrers Halfpipe-Bronze im Snowboard ist viel wert und auch Freeski, wo Mathilde Gremaud Gold und Bronze holte, ist längst keine Freak-Veranstaltung mehr. Die Medaillen in jungen, weniger umkämpften Sportarten hat man dieses Mal anderen Nationen überlassen.
Was aber sind die Gründe für den Erfolg?
1. Die Überflieger
Die Schweizer Delegation darf auf absolute Ausnahmekönner zählen. «Ich sehe eine hungrige Generation», sagt Hippolyt Kempf, Olympiasieger von 1988 in der Nordischen Kombination und heute Dozent und Forschender im Thema Leistungssport Schweiz an der Eidgenössischen Hochschule für Sport in Magglingen. «Eine Generation, die stark und frisch und im besten Leistungsalter ist.» Mit Marco Odermatt stellt die Schweiz den besten Skifahrer der Gegenwart. Beat Feuz ist auf der Abfahrt der Mann mit dem Gefühl für den Schnee und für die grossen Momente, Mathilde Gremaud sprang in Big Air und Slopestyle zu ihren Olympia-Medaillen 2 und 3. «Auch andere Medaillenkandidaten im Freeski, bei den Aerials oder Nadine Fähndrich im Langlauf sind nur am Podest vorbeigeschrammt. Da hat teils das Glück gefehlt, das gehört dann auch dazu.» Aber es zeigt vor allem auch die Breite der Schweizer Olympiadelegation.
2. Der Killerinstinkt
Eine Zeit lang war es so: Die Schweiz schickte eine Delegation zu den Olympischen Spielen. Und dann guckte man mal. Wenn die Top-Stars nicht ablieferten, sah das Ergebnis dünn aus. 1992 und die Spiele von Albertville lassen grüssen, als es vier Jahre nach Calgary bloss drei Medaillen gab. «Neutralität und Bescheidenheit waren über Jahrzehnte eine Schweizer Nachkriegstugend», sagt Sportpsychologe Jörg Wetzel, der in Peking zum neunten Mal für Swiss Olympic bei Olympia im Einsatz steht. «Das hat gerade in Situationen, wo wir Leistung bringen mussten, nicht geholfen.» Für sportliche Top-Leistungen braucht es andere Tugenden. «Einen hohen Selbstwert, Selbstvertrauen, Widerstandsfähigkeit. Da sind wir deutlich weitergekommen.» Noch sieht Wetzel die alten Schweizer Muster aber ab und zu aufflackern. «Sich eine Medaille auch zu nehmen, die einem zusteht, das muss man sich erst einmal trauen.» Killerinstinkt nennt sich das im Volksmund. Den beweisen die Swiss-Olympic-Athleten in Peking unter erschwerten Bedingungen. Noch nie war die mentale Gesundheit so wichtig wie bei den Corona-Spielen in China.
3. Die Frauen
Neun Peking-Medaillen gehen auf das Konto der Frauen. Das ist kein Zufall, schon bei den Spielen im vergangenen Sommer in Tokio gab es drei Olympiasiegerinnen aus der Schweiz, kein männlicher Eidgenosse dagegen brachte es zu Gold. Viermal schaffte es eine Schweizerin in der Leichtathletik in einen Olympia-Final – kein einziger Schweizer Mann kann einen solchen Erfolg vorweisen. Die Frauenförderung im Schweizer Sport hat in den letzten Jahren massive Fortschritte gemacht. Wo es noch hapert: Trainerinnen und Funktionärinnen sind immer noch deutlich in der Unterzahl. Das wird noch ein bisschen dauern: Die Ansage von Sportministerin Viola Amherd, bis 2024 40 Prozent der Funktionärsjobs in Schweizer Sportverbänden mit Frauen zu besetzen, wird schwer zu erfüllen sein.
4. Die Trainer
Einer, der gute Noten bekommt, wo man auch hinhört: Delegationsleiter Ralph Stöckli. Der Ex-Curler schafft ein konstruktives Klima, das die Mitglieder der verschiedenen Sparten einbindet. Einen grossen Job leisten dazu die Trainer. «Das sind zumeist erfahrene Leute, die sich gegenseitig akzeptieren», analysiert Psychologe Wetzel. «Die müssen sich nicht behaupten, sondern arbeiten lösungsorientiert und legen auch in Individualsportarten grossen Wert darauf, dass teamorientiert gearbeitet wird. Das zahlt sich aus.»
5. Die Technologie
Gerade bei den Schneesportarten wurde in Peking sehr stark zwischen den Disziplinen zusammengearbeitet: GPS-Tracking, Wetter-Tracking, Prognosen, Wachs-Service, Berechnung von Schneebedingungen gab es in noch nie da gewesenem Masse. «Wir hatten fünf oder sechs Leute vor Ort, die nichts anderes getan haben, als Analysen zu machen, Daten aufzubereiten und Trainer und Serviceleute zu unterstützen», sagt Nordisch-Direktor Kempf. Wie viel das am Ende ausmacht? «Das lässt sich nicht beziffern.» Im Minimum aber gibt es die Gewissheit, alles versucht zu haben.
6. Die Corona-Strategie
Der liberale Umgang der Schweiz mit dem Coronavirus kommt den Sportlern zugute. Während vielerorts das Training durch geschlossene Anlagen erschwert wurde, konnten Schweizer Athleten über weite Strecken relativ normal trainieren. «In dieser Sache müssen wir der Schweizer Regierung ein Kränzchen winden», sagt Kempf. «Wir waren immer am Limit, konnten immer Sport machen.» Dazu das Stabilisierungspaket und weitere Finanzhilfen, «man hat den Sport prioritär behandelt, wir waren immer eine der ersten Ausnahmen.» Und dann sind da noch die Alpen: Als im vergangenen Herbst die Skifahrer der Franzosen und Italiener zum Schneetraining nach Argentinien abfliegen wollten, wurde ihnen in letzter Minute vom argentinischen Staat ein Strich durch die Rechnung gemacht: Einreisesperre wegen Corona. Die Schweizer hatten derweil in Zermatt wochenlang beste Bedingungen und konnten es sich sogar leisten, den Konkurrenten für ein paar Tage Gastrecht zu gewähren.
7. Der Skiverband
Apropos Ski: Ob der grossen Anzahl der Medaillen sollte nicht vergessen werden, dass alle Medaillen aufs Konto von Swiss-Ski gehen. Seien es die Alpinen, die Snowboarder (Jan Scherrer) oder die Freeskier (Mathilde Gremaud): Der Skiverband zieht den Karren. «Der Verband hat mittlerweile hervorragende Strukturen», lobte Trainerlegende Karl Frehsner vergangene Woche im Blick. «Und obwohl ich weiss, dass es viele Leute nicht gerne hören, möchte ich festhalten, dass Urs Lehmann einen riesigen Anteil an diesen Erfolgen hat.» Der Swiss-Ski-Präsident hat dafür gesorgt, dass Swiss-Ski seit 2010 den Umsatz von knapp 39 Millionen auf 60 Millionen Franken steigern konnte. Geld, das dem Sport zugutekommt. So sprang Swiss-Ski etwa im vergangenen März ein, als der Langlauf-Weltcup von Oslo ausfiel und innert weniger Tage Ersatzrennen im Engadin organisiert wurden. Dazu zählt der Skiverband auf ein grosses Netz von Gönnern, die auch in der Pandemie einspringen konnten.