In besonders schwierigen Momenten zieht Marco Odermatt (27) oft den Murisier-Joker. 2022 war der Nidwaldner bei den Olympischen Spielen 2022 nach dem siebten Rang in der Abfahrt und dem Ausfall im Super-G der Verzweiflung nahe, bis er nach dem ersten Riesenslalom-Lauf den entscheidenden Input von seinem Zimmerkollegen Justin Murisier (32) erhalten hat: «Marco, du musst die Ski und die Bindung wechseln.»
Das Ergebnis dieses Wechsels: Odermatt hat in Peking mit einem überragenden zweiten Durchgang Riesen-Gold eingefahren. Bei Halbzeit beim jüngsten Riesenslalom am Chuenisbärgli benötigt der dreifache Gesamtweltcupsieger erneut den Ratschlag des Wallisers. Warum? Der Titelverteidiger liegt «nur» an dritter Stelle. Der Rückstand auf den Führenden Loïc Meillard (28) beträgt 34 Hundertstel. «Ich habe mich vom ersten Tor an nicht wohlgefühlt. Es ist mir zwar gelungen, den Schaden in Grenzen zu halten. Aber mir war klar, dass ich im Hinblick auf den zweiten Durchgang bezüglich der Materialabstimmung irgendetwas ändern muss.»
«Marco, du hast zu viel Grip!»
Weil Beaver-Creek-Abfahrtssieger Murisier für Adelboden Forfait erklärte, um sich optimal auf die Speed-Woche am Lauberhorn vorzubereiten, beobachtet er den prestigeträchtigsten Riesenslalom der Welt im Fernsehsessel daheim im Val des Bagnes im Wallis. Dort erreicht den 32-Jährigen kurz nach 12 Uhr per Whatsapp eine Anfrage von seinem Kumpel Marco: «Was meinst du, hatte ich im ersten Lauf zu viel, oder zu wenig Grip?» Murisiers Antwort: «Ganz klar zu viel!» Odermatt lässt seine Stöckli-Raketen von seinem herausragenden Servicemann Chris Lödler entschärfen und sagt: «Justin hat sich bis jetzt noch nie getäuscht, seine Einschätzung gibt mir ein richtig gutes Gefühl.»
Mit entsprechend viel Selbstvertrauen greift der 27-Jährige am Nachmittag an. Bis kurz vor der Einfahrt in den Zielhang gelingt ihm eine makellose Fahrt. Doch dann der grosse Aufreger – Odermatt kommt arg ins Wanken, kann aber seinen dritten Ausfall in diesem Winter im letzten Moment abwenden. «Ich war in meinen Gedanken bereits beim nächsten Streckenabschnitt. In diesem Moment hat es mir den Ski verschlagen. In dieser Situation hatte ich wirklich riesiges Schwein, dass ich im Rennen geblieben bin.»
Ungefähr zwei Minuten, nachdem Odermatt trotz dieses Schockers die Führung vor dem Italiener Luca de Aliprandini übernimmt, hat Henrik Kristoffersen weniger «Schwein» – der Norweger fällt bereits im ersten Streckenabschnitt aus. Doch was macht Loïc Meillard? Bis zur letzten Zwischenzeit liegt der Walliser immer noch drei Zehntel vorne. Odermatt beginnt im Zielraum, sich mit dem zweiten Platz anzufreunden. «Aufgrund meines Fehlers vor dem Zielhang war ich mir ziemlich sicher, dass Loïc den Sieg nach Hause fahren wird.»
Die aussergewöhnliche Reaktion
Doch im Ziel ist Meillard zwei Zehntel hinten, Odermatt gewinnt somit zum vierten Mal in Serie den Riesenslalom am Chuenisbärgli, welcher gleichbedeutend mit seinem 42. Weltcupsieg ist. Dennoch bleibt der überschwängliche Jubel zumindest im ersten Moment aus. «Ich habe mich unmittelbar nach der Entscheidung auch aus Respekt vor Loïc beim Jubeln zurückgehalten», erklärt der Ausnahme-Athlet. Doch bei der offiziellen Siegerehrung gibt es kein Halten mehr, Odermatt und Meillard feiern den neuerlichen Schweizer Doppelsieg mit der obligaten Champagnerdusche. Gut möglich, dass Odermatt am Montagabend nach der Ankunft in Wengen BE auch noch mit Justin Murisier anstossen wird – aus Dankbarkeit für einen weiteren, gewinnbringenden Ratschlag.