Hinter Karli Odermatt liegen schwere Zeiten. Nach dem jahrelangen Krebsgang seines FC Basel (seit 2017 ohne Meistertitel) musste der 79-Jährige vor vier Monaten einen persönlichen Schicksalsschlag einstecken. «Plötzlich war meine rechte Gesichtshälfte gelähmt. Es war zeitweise sehr schlimm!»
Doch jetzt ist der einstige Mittelfeld-Stratege schon wieder fast der Alte. Und bevor er im Zielbereich des Adelbodner «Chuenisbärglis» gemeinsam mit seinem langjährigen Freund Heinz Zimmermann Platz nimmt, strahlt der Karli wie ein kleiner Bub. «Für mich geht heute ein Traum in Erfüllung, weil ich erstmals direkt vor Ort ein Skirennen von meinem Namensvetter verfolgen darf. Und ich bin mir sicher, dass Marco auch heute alle in Grund und Boden fahren wird.»
Karli und sein Kumpel Heinz verfolgen den ersten Durchgang neben Marcos Papa Walti. Ein Ahnenforscher hat kürzlich den Verwandtschaftsgrad zwischen dem Fussball-Altmeister und dem erfolgreichsten Skirennfahrer der Gegenwart herausgefunden – bis zur neunten Odermatt-Generation haben Marco und Karli, dessen Vater einst vom Kanton Nidwalden ins Baselbiet übersiedelte, die identischen männlichen Vorfahren.
Entsprechend gross ist die Freude im Odermatt-Clan nach dem ersten Durchgang, in dem Marco dank einer fantastischen Leistung im steilen Zielhang die Bestzeit aufstellt. Vorjahressieger und Gesamtweltcup-Titelverteidiger Alexis Pinturault liegt bei Halbzeit drei Zehntel zurück.
Tränen auf dem Skilift
Für einen Moment bricht bei den Odermatts dennoch Unruhe aus, weil Marco einen heftigen Schlag von einer Torstange abbekommt. Er gibt aber wenig später Entwarnung: «Es ist nichts Schlimmes. Ich muss die Hand lediglich ordentlich abkühlen, damit sie nicht zu stark anschwillt.»
Auf dem Weg zum zweiten Lauf passiert bei «Odi» aber etwas Aussergewöhnliches. «Ich hatte auf dem Skilift Tränen in den Augen. In mir sind Emotionen aufgekommen, wie ich sie bis dato noch nie erlebt habe», gesteht der 24-Jährige. «Ich glaube, diese Emotionen waren eine Mischung aus dem gigantischen Druck, den man als Schweizer Rennfahrer hier erlebt, und aus der einzigartigen Stimmung, welche das Publikum in Adelboden entfacht.»
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Und weil er diesem einzigartigen Publikum etwas ganz Besonderes bieten will, zeigt der sonst so coole Buochser bis zum Start des zweiten Durchgangs Nerven. «Die drei Stunden zwischen den beiden Läufen sind mir brutal lange vorgekommen. Und ich musste mir immer wieder einreden, dass ich mich jetzt ganz besonders ins ‹Füdlä› klemmen muss.»
Um 14.24 Uhr ist es dann so weit: Odermatt nimmt den bislang wichtigsten Lauf seiner Karriere in Angriff. Während Papa Walti und sein berühmter Namensvetter Karli vor lauter Nervosität fast nicht zuschauen können, liefert Marco eine eindrückliche Demonstration von mentaler Stärke und skifahrerischem Können ab. Mit Ausnahme von zwei kleinen Unsicherheiten auf dem Innenski gelingt ihm eine herausragende Fahrt. Er triumphiert vor Österreichs Manuel Feller und Pinturault, der letztlich Dritter wird.
Karli öffnet Weinkeller
Karli Odermatt jubelt auf der Tribüne, wie wenn sein FCB soeben die Champions League gewonnen hätte. «Ich habe im Sport ja einiges erlebt. Aber was Marco auf diesem Hang zeigt, der in Wahrheit viel steiler ist, als er im TV erscheint, gehört zum Grössten, was ich je gesehen habe!»
Zu gerne hätte der Karli diese Worte «seinem» Marco persönlich gesagt. Aber weil die Rennfahrer pandemiebedingt den direkten Kontakt zu Aussenstehenden vermeiden sollten, wird es die nächste Begegnung zwischen den beiden berühmtesten Odermatts erst nach der Saison geben.
«In meinem Weinkeller habe ich eine 450 Franken teure Flasche Sassicaia mit Jahrgang 2008 für Marco reserviert. Im Sommer werde ich einmal nach Nidwalden fahren, damit wir diesen Rotwein in einer Alphütte zusammen trinken können.»