Die Aufregung im Swiss-Ski-Trainingscamp auf dem kleinen Matterhorn ist gross! Selbst der sonst so abgebrühte Abfahrts-Altmeister Franz Heinzer (61, Weltmeister 1991) ist sichtlich nervös. Warum? Heinzer, der seit 16 Jahren höchst erfolgreich als Europacup-Chef der Schweizer Männer agiert, hat in der letzten Woche gemeinsam mit Weltcup-Gruppentrainer Vitus Lüönd (38) beim Bau des ersten Sprungs der neuen Matterhorn-Abfahrt Regie geführt.
Nun sollen die Schützlinge der beiden Schwyzer zwei Monate vor der Weltcup-Premiere diesen Matterhorn-Sprung entjungfern. «Obwohl ich in diesem Sport über all die Jahre eine ordentliche Erfahrung gesammelt habe, ist es beim Bau eines solchen Sprungs nicht ganz einfach, die Weite und den Luftstand der Athleten zu berechnen. Deshalb bin ich vor dem allerersten Sprung besonders angespannt», hält Heinzer fest.
Besondere Bewährungsprobe für Chabloz
Hoch ist der Puls auch bei Yannick Chabloz. Der Nidwaldner mit Waadtländer Wurzeln ist im letzten Jahr gleich zweimal richtig übel abgeflogen. Im Februar hat er anlässlich der Olympischen Spiele in Peking bei der Kombi-Abfahrt Brüche an der Hand und an der Schulter erlitten, im Dezember verletzte sich der 24-Jährige auf der «Stelvio» in Bormio am Rücken. «Nach diesen zwei Stürzen muss ich gegen eine mentale Blockade ankämpfen, das Unterbewusstsein hat mich in den letzten Trainingsfahrten immer wieder etwas eingebremst.»
Ob der Jungfernflug über den Matterhorn-Sprung bei diffusem Licht diese Blockade lösen kann? Trainer Heinzer greift vor der Startfreigabe noch einmal zur Schaufel: «Ich habe soeben beim Schanzentisch einen ‹Spicker› entdeckt, der entschärft werden muss.» Nach ein paar routinierten Handgriffen ist das Problem behoben. Heinzer greift zum Funk und sagt: «Piste frei!»
Erleichterung nach Boissets Sprung
Bezeichnenderweise ist es ein Walliser, der nach ein paar Super-G-Toren zum Flug über den Matterhorn-Backen ansetzt – Arnaud Boisset aus Martigny, im letzten Winter Europacup-Super-G Gesamtsieger. Der 25-Jährige rast mit rund 100 k/mh auf die Absprung-Kante zu. Sekunden später schnaufen seine Übungsleiter tief durch. Boisset ist nach einem geschichtsträchtigen Satz an die 40-Meter-Grenze sicher gelandet. «Der Sprung funktioniert einwandfrei», funkt Heinzer in Richtung Start.
Super-G-Schweizer-Meister Denis Corthay (20) lässt es nach dieser Information noch ein bisschen mehr krachen und knackt die 50-Meter-Marke. Der Ostschweizer Routinier Ralph Weber (30), Europacup-Gesamtsieger Josua Mettler (25), Super-G-Junioren Weltmeister Livio Hiltbrand (19), Top-Talent Franjo von Allmen (22, dreifacher Junioren-Vize-Weltmeister 2022), Didier Cuches Neffe Rémi Cuche (23), der Berner Oberländer Lars Rösti (25) und die grosse Zürcher Oberländer Zukunftshoffnung Alessio Miggiano (21) springen danach in eine vergleichbare Dimension.
«Wir werden hier 70 Meter weite Sprünge sehen!»
Auch Yannick Chabloz meistert die erste echte Mutprobe nach den letztjährigen Bruchlandungen souverän. «Bei der ersten Besichtigung hat mich dieser Sprung schon ziemlich beeindruckt, beim Fahren hat dann aber eigentlich alles Tipptopp funktioniert», resümiert Chabloz. «Was das Panorama anbelangt, ist dieser Sprung fast nicht zu toppen - man fliegt wirklich voll in Richtung Matterhorn», schildert Ralph Weber.
Joshua Mettler spricht von einem «sehr lässigen Sprung!» Auch Franjo von Allmen spricht von einem «sehr schönen Sprung. Ich hoffe aber, dass bei den Weltcuprennen das Tempo höher sein wird, damit wir bis in den Steilhang hinunterspringen.» Davon ist Franz Heinzer überzeugt: «Wir werden bei den Weltcup-Abfahrten im November an dieser Stelle 60 bis 70 Meter weite Sprünge sehen, weil die Anfahrtsgeschwindigkeit rund 20 k/mh höher als in unserem Super-G-Training sein wird.»
Unmittelbar nach diesem Mega-Sprung wird bei den Weltcuprennen eine technisch höchst anspruchsvolle Traverse in Richtung italienische Grenze folgen. Was den Rennfahrern im Hinblick auf die Ernstkämpfe auf der «Gran Becca» am meisten zu denken gibt, ist die erwartete Fahrzeit von zwei Minuten. «Auf dieser Höhe bin ich jeweils bereits nach einer Trainingsfahrzeit von einer Minute stark ausser Atem. Deshalb fällt mir der Gedanke an einen Lauf von zwei Minuten im Moment ziemlich schwer», gibt Josua Mettler zu. Die erste Matterhorn-Abfahrt soll am 11. November gestartet werden.