Der furchtlose Grossonkel
Von wem hat Marco Odermatt den Mut und die Nervenstärke geerbt? «Von der Familie seiner Grossmutter», antwortet Marcos Vater Walti. «Meine Mutter wuchs mit elf Geschwistern auf. Einige ihrer Brüder waren furchtlose Bergsteiger, harte Arbeiter und machten sich als erfolgreiche Unternehmer einen Namen.»
Diese Beschreibung trifft insbesondere auf Odermatts Grossonkel Toni Frank zu, der in Ennetbürgen eine florierende Holzbau- und Immobilienfirma aufgebaut hat. «Als junger Zimmermann lief ich regelmässig in einer Höhe von zehn Metern über einen schmalen Balken und hatte nicht den leisesten Zweifel, dass etwas schiefgehen könnte. Mit derselben Überzeugung meistert Marco die steilsten Skipisten der Welt», meint Toni Frank schmunzelnd.
Im Sommer 2012 hat der damals 15-jährige «Odi» in der Zimmerei sein Sackgeld verdient. Der 66-jährige Frank deutet im Herzen von Ennetbürgen auf ein Holzhaus und sagt: «Beim Bau dieses Gebäudes hat Marco mitgewirkt.» Toni beginnt verschmitzt zu grinsen, wenn er an diese Zeit zurückdenkt: «Marco war damals ein mageres Büebli, das von mir auf der Baustelle als Läufer eingesetzt worden ist. Er ist praktisch nonstop die Treppe hinauf- und hinuntergelaufen, um Material anzuschleppen. Weil es in diesem Sommer besonders warm war, hat Marco viel Schweiss vergossen.»
Obwohl er seinem berühmten Grossneffen kein besonderes handwerkliches Talent attestiert, kann sich Frank gut vorstellen, dass der dreifache Gesamtweltcupsieger eines Tages in seine beruflichen Fussstapfen tritt: «Marco hat grosses Interesse und auch das richtige Gespür für das Geschäft mit Immobilien. Deshalb wäre ich nicht überrascht, wenn er nach seiner Ski-Karriere in dieser Branche Fuss fassen würde.»
Der beste Schulkollege
Kean Mathis und Marco Odermatt waren in der Schulzeit schier unzertrennlich. Beide besuchten in Hergiswil die Begabtenförderungsklasse. «Marco und ich haben uns von Montag bis Freitag jeden Morgen am Bahnhof in Stans getroffen, sind mit dem Zug gemeinsam in die Schule gefahren, wo wir nebeneinandersassen. Selbstverständlich haben wir auch ausnahmslos zusammen zu Mittag gegessen und sind nach der Schule wieder gemeinsam nach Hause gefahren», erinnert sich Kean.
Und weil auch Mathis ein talentierter Skifahrer war, haben die beiden auch fast jeden Tag zusammen trainiert. Im Februar 2010 wartete Kean mit einer Aktion auf, die massgeblich zur galaktischen Entwicklung seines Kumpels aus Buochs beitrug. «Marco fuhr bis zu diesem Zeitpunkt Rossignol-Ski. Seine Technik war schon damals fantastisch, aber Rennen hat er kaum mal gewonnen. Ich habe ihm deshalb meinen Stöckli-Ski geliehen. Ein paar Tage später gewann Marco mit meinen Ski einen U14-Riesenslalom am Sörenberg!»
Während Odermatt seither mit Stöckli Seriensiege einfährt, musste Mathis seine Ski-Laufbahn aufgrund zahlreicher Verletzungen beenden und ist nach einer Lehre als Zimmermann beim Kanton Nidwalden angestellt. Frustriert ist er deshalb nicht. Im Gegenteil. «Wenn ich den riesigen Rummel um Marco sehe, bin ich froh, dass ich es als Skirennfahrer nicht an die Weltspitze geschafft habe. Marco kann sich in der Schweiz nicht mehr frei bewegen. Egal ob im Ausgang oder bei einem Mittagessen im Restaurant – er wird überall erkannt. Er geht sehr souverän damit um, aber für mich wäre das nichts.»
Der Entdecker
Es war im Frühling 2010, als der Schwyzer Richi Grab, seines Zeichens Nachwuchsleiter bei Stöckli-Ski, seinem damaligen Chef Walter Reusser eine klare Forderung stellte: «Es gibt in der Schweiz zwei Burschen mit Jahrgang 1997, die wir unbedingt unter Vertrag nehmen müssen. Der eine heisst Marco Kohler, der andere Marco Odermatt!» Reusser, der mittlerweile CEO-Sport bei Swiss-Ski ist, hat sofort eingelenkt, die beiden Marcos haben kurz darauf ihren ersten Ausrüstervertrag unterschrieben.
Der Berner Oberländer Kohler, der im letzten Weltcup-Winter nach zwei Top-10-Platzierungen am Lauberhorn einen Kreuzbandriss davontrug, dominierte in der Folge die U16-Rennen nach Belieben. Odermatt benötigte etwas länger, weil er im U16-Bereich körperlich unterlegen war.
Dass er mit der Verpflichtung des Nidwaldners für sich und seinen Arbeitgeber einen Lotto-Sechser gelandet hat, ahnte Grab bereits bei einem FIS-Rennen in Davos: «An diesem Morgen stieg Marco mit einem kreidebleichen Gesicht in die Gondel. Er hatte kaum geschlafen, weil er aufgrund einer Grippe ständig erbrechen musste. Ich hatte meine Zweifel, ob es unter diesen Umständen Sinn macht, ein Rennen zu bestreiten. Der junge Odermatt hat mich eines Besseren belehrt, in dem er mit einer hohen Nummer auf den sechsten Rang fuhr und damit die Basis für seinen Aufstieg ins C-Kader von Swiss-Ski legte.»