Dass Cyprien Sarrazin (29) in jeglicher Hinsicht ein aussergewöhnlicher Rennfahrer ist, zeigt sich rund 18 Stunden vor dem Start zur Hahnenkamm-Abfahrt. Der langjährige Rennbüro-Leiter Peter Eder (75) ist am Donnerstagnachmittag ziemlich perplex, als der Franzose in seinem Office auftaucht. Eder zu Blick: «Cyprien ist mit seinen Teamkollegen zu mir gekommen, weil er sich persönlich bedanken wollte, dass wir für die Angehörigen Tickets organisiert haben. Das hat mich total überrascht, weil Rennfahrer in der Vorbereitung auf ein derart wichtiges Rennen normalerweise an andere Dinge denken.»
Bevor Sarrazin und Co. ins Hotel zurückmarschieren, holt Eder einen hochprozentigen Drink aus seinem Schrank: «Wir haben mit einem Apfel-Birnen-Schnaps auf das Rennen angestossen.»
Odermatt realisiert 63. Podestplatz
Vielleicht ist es dieser Obstbrand, der dem 29-Jährigen auf der Streif den letzten Kick gibt. Sarrazin gelingt mit der Nummer 14 eine Fahrt, die fünf Hundertstel schneller ist als der Lauf des Südtriolers Florian Schieder (28). Und unser Superstar Marco Odermatt (26)? Der Nidwaldner liefert eine gute, aber keine überragende Leistung ab. In der Endabrechnung klassiert sich der Lauberhornsieger mit drei Zehntel Rückstand auf dem dritten Rang. «Ich habe von der ersten Kurve an gemerkt, dass diesmal nicht alles perfekt zusammenpasst», gibt er zu Protokoll.
War das Material-Set-up nicht optimal? «Ich darf nicht erwarten, dass das Set-up in 30 Rennen 30 Mal perfekt passt.» Dennoch hat Odermatt auch diesmal allen Grund zur Freude, schliesslich ist dieses Ergebnis gleichbedeutend mit dem 63. Podestplatz seiner Karriere. Sarrazin bejubelt in Kitzbühel nach den Erfolgen beim Super-G in Wengen BE und der Abfahrt in Bormio (It) seinen dritten Weltcupsieg.
Der moralische Sieger kommt aus dem Wallis
Vor der zweiten Hahnenkamm-Abfahrt innerhalb von 24 Stunden freut sich Odermatt ganz besonders über die Vorhersagen der Meteorologen, die eine extrem kalte Nacht prognostizieren. Dadurch dürfte die Streif bei der grossen Revanche komplett vereist sein. Und auf Eis wird der zweifache Gesamtweltcupsieger vom Vierwaldstättersee selbst von einem Sarrazin in Gala-Form kaum zu schlagen sein.
Im Zentrum des Interesses steht ab sofort auch der Walliser Arnaud Boisset (25), der im ersten Hahnenkamm-Akt zum moralischen Sieger avanciert! Dem Rennfahrer aus Martigny gelingt mit der Nummer 53 ein toller Start, bei der zweiten Zwischenzeit liegt er lediglich 14 Hundertstel hinter der Bestzeit.
Doch dann wird er mit der gelben Fahne abgewunken, weil am Hausberg ein Pistenrutscher stürzt. Boisset wird mit dem Helikopter zurück an den Start geflogen. «Es ist kein cooles Gefühl, wenn du auf der Streif so gut unterwegs bist und abgewunken wirst. Und es war für mich schwierig, noch einmal die Konzentration für den Neustart aufbauen zu können. Aber als ich gesehen habe, dass ich bis zur gelben Fahne gute Zwischenzeiten hatte, hatte ich die Gewissheit, dass ich das richtige Konzept für diese Strecke habe.»
Boisset und sein Sommerjob
Und beim zweiten Anlauf gelingt Boisset beinahe die ganz grosse Sensation – bis zur vierten Zwischenzeit liegt er in Führung! Über den Hausberg bis ins Ziel verliert der Romand zwar mehr als eine Sekunde, dennoch reicht es für die erste Top-10-Klassierung in seiner Weltcup-Karriere. «Das Schönste ist, dass ich nach diesem Zwischenfall den Kampf gegen meinen eigenen Kopf gewonnen habe», sagt Boisset, der ähnlich wie Sieger Sarrazin mit einem besonders risikoreichen Fahrstil auffällt. «Ich betrachte das Leben als Spiel, ich liebe das Risiko. Und weil meine Technik nicht so genial ist wie die von einem Marco Odermatt, muss ich mit mehr Engagement zu Werke gehen.»
Boisset konzentriert sich aber nicht nur auf den Skirennsport. Er hat ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen und arbeitet zwischen April und September in Genf bei einer Privatbank. «Ich brauche einen Ausgleich zum Skisport. Und weil ich im Sommer ganz normal von Montag bis Freitag arbeite, schätze ich im Winter das aussergewöhnliche Leben im Ski-Zirkus umso mehr.» Ein wahrhaftig aussergewöhnlicher Typ, dieser Arnaud Boisset.