Wir schreiben den 8. September, als Marc Gisin im Gespräch mit BLICK seine Ausgangslage mit ernster Miene und deutlichen Worten formuliert: «Bis zum Saisonstart im Dezember muss bei mir alles wieder funktionieren wie vor meinem Gröden-Unfall. Wenn nicht, wird sich ganz ernsthaft die Frage stellen, ob das Rennfahren für mich noch Sinn macht.» Bis zum Auftakt der Abfahrts-Saison in Val-d’Isère Saison verbleiben nun noch 26 Tage. Allzu viel Optimismus versprüht der 32-Jährige nicht mehr.
«Es hat zuletzt in den Trainings immer wieder Situationen gegeben, in denen ich meine Ski zu wenig gut gespürt habe», sagt Gisin, der nach seinem Saslong-Crash im Dezember 2018 neben zahlreichen Brüchen auch eine heftige Gehirnerschütterung und eine Lungenkontusion erlitten hat. Schlimmer noch: «Es hat auch einige Situationen gegeben, in denen ich einen heftigen Sturz nur mit Glück abwenden konnte.»
Gisin stagniert, die Zeit läuft davon
Gisins Trainer Reto Nydegger hat sich bis im September sehr zuversichtlich über die sportliche Zukunft des 1,99 Meter-Mann aus Engelberg geäussert. Was sagt er jetzt zu dessen Entwicklung? «In den ersten Gletschertrainings im August hat sich Marc körperlich aber auch skitechnisch um Welten besser präsentiert als im Jahr zuvor. Doch zuletzt hat Marc stagniert, es fehlt der allerletzte Schritt. Es scheint zwischen seinem Hirn und den Ski noch eine kleine Blockade zu geben.»
Was nun? Gisin, der seinen Comeback-Versuch im letzten Winter nach dem ersten Lauberhorn-Training abgebrochen hat, denkt nicht ernsthaft an eine Verlängerung der Frist, die er sich selber gesetzt hat. «Vielleicht würde das optimale Ski-Gefühl tatsächlich zurückkommen, wenn ich mir noch einmal mehr Zeit geben würde, wenn ich noch einmal eine Saison aussetzen würde.»
«Werde das Ende meiner Karriere ohne Gejammer akzeptieren»
Doch weil es aufgrund der Corona-Krise noch schwieriger wird, Sponsoren- und Ausrüster-Verträge abzuschliessen, winkt er ab. «Ich weiss, dass ich nicht mehr so viel Zeit habe.»
Mehr zu Marc Gisin
Gisin kann seinen Platz im Ski-Zirkus also nur noch mit einer Leistung-Explosion in den letzten Trainings bis Val-d’Isère retten. «Ich werde alles tun, damit mir das gelingt. Wenn nicht, werde ich das Ende meiner Karriere ohne Gejammer akzeptieren», stellt er klar. «Ich habe zwar nicht das Gefühl, dass ich in meiner Karriere mein volles Potenzial abrufen konnte. Aber es gibt Athleten, die wegen Verletzungen ihren Traum einer erfolgreichen Laufbahn viel früher beenden mussten als ich.»
Abschreiben sollte man Marc Gisin aber noch nicht, gilt er doch als grosser Kämpfer. Zur Erinnerung: 2015 erlitt er bei einem grausamen Super-G-Abflug in Kitzbühel ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und eine Hirnblutung. Zwölf Monate später verblüffte er am selben Ort mit dem fünften Abfahrtsrang.