05:20 Uhr – ein besonderer Tag bricht an
Tagwacht am letzten Arbeitstag im Schwingerleben von Christian Stucki. Vieles läuft auch heute so wie an jedem anderen Schwingfest-Tag. Es gibt ein leichtes Frühstück, dann geniesst der König noch etwas die Ruhe zu Hause. Allerdings machen sich die Emotionen schon frühmorgens bemerkbar. «Schon beim Abstellen des Weckers war mir klar – es ist das letzte Mal, dass ich als Sportler für ein Schwingfest aufstehe.»
07:10 Uhr – hier kommt der König
Nur wenige hundert Meter ist der Festplatz beim Sportzentrum Grien von Stuckis Zuhause entfernt. Den kurzen Weg legt der Altmeister mit dem Velo zurück. Und schon bevor er überhaupt einen Fuss aufs Festgelände gesetzt hat, kommen dem Seeländer zum ersten Mal die Tränen. Es wird an diesem Tag nicht zum letzten Mal sein.
09:05 Uhr – die erste Standing Ovation
Lyss BE liebt seinen König, das zeigt sich schon, als Stucki den Platz betritt. Schon bevor der Lysser einen Finger im Sägemehl krümmt, erntet er tosenden Applaus und eine Standing Ovation vom Publikum. «Da hats mich kurz ‹ghudlet› und zwei, drei Tränen sind durchgedrückt. Es ist mega schwierig, mit solchen Emotionen direkt vor dem Gang umzugehen. Aber ich konnte den Fokus zum Glück wieder finden.» Äusserlich lässt sich der Riese kaum etwas anmerken. Er winkt kurz in die Menge, dann richtet er den Blick wieder zu Boden. Um sich zu fokussieren, und wohl auch, um die Tränen zurückzuhalten.
09:13 Uhr – souveräner Stucki
Das Oldie-Duell Christian Stucki (38) gegen Stefan Burkhalter (48) im ersten Gang dauert nur wenige Sekunden. Schon im ersten Zug legt der Seeländer den Thurgauer auf den Rücken. «Da hat er mich kalt erwischt», zieht Burkhalter nach dem Gang Bilanz. Den tosenden Applaus vor und nach dem Gang mag er Stucki gönnen: «So muss das sein!»
11:30 Uhr – eine königliche Bilanz
Der König schwingt, wie in seinen besten Tagen. Die Mittagspause hat sich Stucki als einziger Schwinger mit drei Höchstnoten wahrlich verdient. «Aber macht euch keine Hoffnungen, ein Rücktritt vom Rücktritt wird es bei mir nicht geben, auch wenn es jetzt grad super läuft», lässt der gut gelaunte Stucki die Schar an Journalisten, die ihn verfolgt, wissen. Bis Stucki sich endlich verpflegen kann, vergehen nochmals gut 20 Minuten. Die paar Meter vom Sägemehlring zur kühlen Garderobe werden zum wahren Selfie-Marathon. Geduldig nimmt sich der Hühne Zeit, und lässt seine Fans strahlen.
14:08 Uhr – Chrigu gegen Chrigu
Namensvetter Christian Gerber (32) fügt Stucki die erste Niederlage des Tages zu. 14 Mal standen sich die beiden schon gegenüber, stets gewann der König. Duell 15 geht an Gerber. Stucki trifft diese Niederlage nicht allzu hart. Er umarmt seinen Kontrahenten herzlich, und lässt sich das Sägemehl abklopfen. Das Lachen ist ihm heute nicht aus dem Gesicht zu fegen. Was die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Sie werden sich an diesem Tag nochmals gegenüberstehen.
17:17 Uhr – Nachhilfe fürs perfekte Drehbuch
«Jetzt bin ich richtig im Seich», sagt Schlussgangteilnehmer Christian Gerber sichtlich aufgewühlt. Denn er weiss – ganz Lyss will das perfekte Happy End für seinen Chrigu. Gerber hingegen steht vor dem ersten Kranzfestsieg seiner Karriere. Vollgas geben oder zurückhalten? Erst in der letzten Minute des Schlussgangs entscheidet er sich. «Ich hab Stucki gesagt: So hü, jetzt nimm mi.» Und Stucki lässt sich nicht zweimal bitten. Der König der Herzen gewinnt das letzte Kranzfest seiner langen Karriere, das Publikum tobt, die Tränen fliessen. Im Sägemehl und auf den Rängen. Christian Stucki hat sich soeben unsterblich gemacht. Nach etlichen Gratulationen, Interviews und Umarmungen zieht er sich in die Garderobe zurück. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht. «Erst mal durchschnaufen. Dann zum allerletzten Mal den Mutz anziehen. Und dann nehmen wir etwa eins oder zwei. Oder drei.» Verdient hat es sich der König allemal.