Anna Siegmann (19) lernt Leo (7) frisch kennen
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«Er steht gern im Mittelpunkt»:Anna Siegmann (19) lernt Leo (7) frisch kennen

«Ich verlor die Freude am Leben»
Reit-Talent (19) ging wegen Schweizer Stallbesitzer durch die Hölle

Was geschah auf dem Hof vom Pferdemillionär Paul Bücheler? Anna Siegmann spricht über die schlimmste Zeit ihres Lebens. Von Schlafstörungen über Fressattacken bis hin zu einer Schockdiagnose.
Publiziert: 03.02.2024 um 17:10 Uhr
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Aktualisiert: 03.02.2024 um 22:37 Uhr
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Das Lachen ist zurück. An der Seite ihres Pferds Leo fühlt sich Anna Siegmann wohl.
Foto: Philippe Rossier
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Nicola AbtReporter Sport

Ein halbes Jahr hielt Reiterin Anna Siegmann (19) durch. Dann griff sie zum Alkohol. Die U21-Nationalkader-Athletin trank heimlich. Im Alkoholrausch konnte sie für eine kurze Zeit sich selber sein. Monatelang trug die Thurgauerin auf dem Reitplatz eine Art Maske. «Ich lachte äusserlich, aber weinte innerlich.» 

Die Schauspieleinlage ist eng verknüpft mit ihren Erfahrungen im professionellen Reitsport. An Silvester 2021 erhielt Siegmann die Chance, die Top-Pferde von Paul Bücheler zu reiten. Der Ostschweizer ist seit über 40 Jahren als Stallbesitzer aktiv. International geniesst er dank seiner talentierten Pferde grosses Ansehen. 

Nach einem Jahr verliess Siegmann den Hof in Romanshorn TG – mit gesundheitlichen Schäden. «Ich erkannte mich nicht mehr wieder.» 

Jeder Franken fliesst in den Reitsport

Ein paar Monate sind seither vergangen. Siegmann sitzt am Esstisch im Elternhaus in Salmsach TG. Wie immer an ihrer Seite: Mutter Martina Siegmann (49). In der Reit-Szene gehören die Siegmanns zu den Exoten. Während die Konkurrenz mit riesigen Lastwagen und Chauffeurs an die Turniere reist, fahren sie mit Jeep und Anhänger durch die Gegend. 

«Mehr können wir uns nicht leisten. Ich investiere jeden Franken in den Reitsport», erklärt Mutter Martina, die ebenfalls eine leidenschaftliche Reiterin ist. Sie verdient ihr Geld mit einer Tagesstätte für Hunde.

Brisanter Geld-Verdacht

Durch den finanziellen Nachteil lernte Anna Siegmann die unschöne Seite des Pferde-Business kennen. Im Alter zwischen 14 und 15 Jahren wurden ihr Teilnahmen an grossen Turnieren versprochen. Meist erhielt letztlich eine andere Reiterin den Vorzug.

Was dahintersteckt, glaubt Siegmann zu wissen. «Sie haben mehr bezahlt. Gerade bei den Junioren entscheidet nicht die Qualität des Reiters, sondern oft die Zahl auf dem Bankkonto.» Für Cornelia Notz (54), Nachwuchsverantwortliche im Schweizer Springreiten, ist klar: «Der Reitsport ist teuer und wird immer teurer. Wer aus reichem Haus kommt, hat es weniger schwer.»

Dazu macht sie ein Beispiel: «Eine junge Reiterin, mit Ambitionen für Einsätze bei Europameisterschaften und Nationenpreisen, braucht ein Pferd, das mindestens über 1,50 Meter springt. Die kosten ein paar Hunderttausend Franken.»

Eine gewaltige Umstellung

Oft haderte Siegmann mit ihrem Schicksal, fühlte sich unfair behandelt. Gleichzeitig nutzte sie die Rückschläge als Motivation. «Ich will beweisen, dass es auch anders geht!» Eine einmalige Chance dazu erhielt an Silvester 2021. Ihr Hufschmied, der sie seit ihren ersten Reitversuchen unterstützt, stellte den Kontakt zum Pferdemillionär Paul Bücheler her.

Beim ersten Treffen hinterliess Siegmann einen überzeugenden Eindruck. Bücheler war derart begeistert, dass er sie mit seinen Top-Pferden an die Turniere schickte. Für Siegmann eine gewaltige Umstellung, da sie aus Kostengründen früher eher untalentiertere Tiere ritt. «Es fühlte sich an, als würde man fliegen.» 

Trainings-Angst und schlaflose Nächte

Die Euphorie verflog nach rund zwei Monaten. Siegmann begann sich auf dem Hof unwohl zu fühlen. Der Umgang von Bücheler setzte ihr zu. «Er kritisierte mich ständig. An einem Tag machte ich zu wenig mit den Pferden, am nächsten zu viel.» Der Hof ist videoüberwacht. Auch in der Reithalle oder beim Putzplatz hat es Kameras. Was Siegmann von anderen Höfen nicht kannte. «Der Gedanke, dass er jeden Moment mit einem Vorwurf um die Ecke kommen könnte, war sehr belastend.» 

Die Angst vor dem nächsten Fehler raubte ihr den Schlaf. «Ich habe in dieser Zeit selten eine Nacht durchgeschlafen.» Besonders belastend waren die gemeinsamen Trainings. Bereits am Vortag graute ihr davor. Vom Trainingsplatz aus sahen die Reiterinnen das Haus von Bücheler.

«Der schlimmste Moment war jeweils, wenn er zu uns herunterlief.» Ein Moment der Ungewissheit. Wie ist er heute drauf? «Entweder lächelte er dich an, oder er macht dich fertig.» Manchmal nahm Siegmann ihre Mutter mit. «Das gab mir Sicherheit.» 

Anruf-Schock am Sonntagmorgen

Es fällt ihr schwer, über diese Zeit zu sprechen. Oft blickt sie Hilfe suchend zu ihrer Mutter. Diese ergänzt: «Paul kontrollierte ihr Leben.» Eine Geschichte ist ihr dabei besonders eingefahren.

Es geschah an einem Sonntagmorgen. Die beiden frühstückten gemeinsam. Eine handyfreie Zone. Nach dem Brunch ging ihre Tochter zur Treppe, schaute auf ihr Telefon und schrie: «Scheisse, Paul hat angerufen!» Panisch schaute sie ihre Mutter an und rief zurück.

Mehrfach entschuldigte sie sich bei Bücheler. «Da wurde mir bewusst, wie viel Macht Paul über meine Tochter hat.» Ab diesem Moment beobachtete sie das Verhalten von Anna ganz genau. 

Die Krebs-Diagnose veränderte alles

Was sie sah, bereitete ihr Sorgen. Ihr Kind nahm innerhalb weniger Wochen rund sechs Kilo zu. Der Stress führte zu unkontrollierten Handlungen. «Ich stopfte alles in mich hinein.» Im engen Reitdress war die Gewichtszunahme für jeden offensichtlich – auch für Bücheler. 

Eines Tages fragte er Siegmann, ob sie zugenommen habe. Sie bejahte, daraufhin meinte er in erstem Ton: «Schau, dass du möglichst schnell wieder abnimmst.» Siegmann stand am Abgrund. «Ich verlor die Freude am Leben. Die Lust am Reiten war weg.» In dieser Zeit begann sie regelmässig Alkohol zu trinken. Gleichzeitig erhielt ihre Mutter die Diagnose Brustkrebs. 

Zu viel für Anna Siegmann. Die Thurgauerin, die von Natur aus eher zurückhaltend ist, verschloss sich vollends. Wenn ihre Mutter nach einer Chemotherapie im Zimmer lag, lief sie wortlos an der offenen Tür vorbei. «Mir ging es ja gut, ich machte mein Ding», erzählt Siegmann leicht verlegen. Martina Siegmann atmet einmal tief durch und meint dann: «Das Verhalten von Anna schmerzte sehr.»

Lügen für den grossen Traum

An Turnieren fiel Siegmann das Aufstehen plötzlich schwer. Sie musste sich aus dem Lastwagen quälen. Im Wissen, dass sie ab jetzt wieder ihr falsches Lächeln aufsetzen musste. Im Gespräch mit Bekannten von Bücheler schwärmte sie von der Zusammenarbeit. «Ich spielte ihnen den ganzen Tag etwas vor.» 

Der Grund ist simpel. Sie war auf seine guten Pferde angewiesen. «Nur so konnte ich mir den Traum von der Profi-Reiterin erfüllen.» Diese Abhängigkeit ist auch Cornelia Notz bewusst. «Wenn es in der Zusammenarbeit mit dem Pferdebesitzer kriselt, ist die Schmerzgrenze bis zu einer Trennung hoch. Die Reiter haben eine sehr enge Beziehung zu ihren Pferden und wollen weder eine Trennung noch ihre Reit-Karriere riskieren.»

Die Geschichte von Siegmann gibt Notz zu denken. Sie kennt die Thurgauerin seit sechs Jahren. «Ich bin schockiert. Meine Reiterinnen liegen mir sehr am Herzen.» Sie appelliert an das Umfeld der Sportler. «Werte wie Respekt oder Verantwortung müssen im Zentrum stehen.»

Der lang ersehnte Anruf

Siegmann ist mit ihren Erfahrungen nicht allein. Bücheler gilt als schwieriger Charakter, das bestätigten SonntagsBlick mehrere Reit-Insider. 2014 endete die Zusammenarbeit von Schweizer Meister Beat Mändli (54) mit Bücheler auf unschöne Art und Weise. 

Seine Nachfolgerin, die irische Ausnahmekönnerin Jessica Kürten (54), beendete nach vier Monaten die Zusammenarbeit und verzichtete freiwillig auf mehrere Top-Pferde.

So auch Siegmann. Der Entscheid, den Hof zu verlassen, fiel im vergangenen März beim Ausreiten mit einer Kollegin. «Ich rief meine Mutter an und sagte ihr, dass ich nicht mehr kann.» Sie wusste, dass ihre Mutter immer hinter ihr stehen würde. «Ohne ihre Unterstützung wäre ich wohl noch heute dort.» Martina Siegmann kann sich sehr gut an diesen Moment erinnern. «Es war auch für mich eine Erlösung.» 

Elf Buchstaben zum Abschluss

Zurück auf dem Hof erklärte Siegmann ihren Entscheid Paul Bücheler. Das Gespräch in seinem Büro hat Siegmann folgendermassen in Erinnerung: 

Siegmann: «Paul, ich kann nicht mehr.»
Bücheler: «Und jetzt?»
Siegmann: «Ich komme nicht mehr.»
Bücheler: «Gut.»
Siegmann: «Danke vielmals für alles.» 

Dann drehte sich Siegmann um und verliess den Hof. Für immer. «Die Pferde zurückzulassen, war mit Abstand am schwersten.» Auf Blick-Anfrage weist Bücheler jegliche Vorwürfe zurück. Auf die ihm gestellten Fragen will er nicht weiter eingehen. 

«Vater-Figur» wendet sich ab

Doch die Pferde blieben nicht das Einzige, was Siegmann verlor. Ihr langjähriger Trainer, ein ehemaliger Spitzenreiter, distanzierte sich von ihr. Im Gespräch bezeichnet sie ihn mehrfach als «Vater-Figur». Hintergrund: Siegmann wuchs mehrheitlich ohne ihren leiblichen Vater auf. Dieser verliess die Familie in jungen Jahren. 

«Ich habe ihm sehr viel zu verdanken.» Ihre Stimme wird brüchig, die Augen wässrig, als sie über ihn spricht. Immer wieder blickt sie zu ihrer Mutter. Ihr Ex-Coach war bereits ihr Trainer, als sie das Angebot von Bücheler annahm. 

Weinend auf die Toilette rennen

Die Beziehung zu ihm war derart gut, dass sie ihn anrief, bevor sie Bücheler mit ihrer Entscheidung konfrontierte. «Ich machte alles abhängig von ihm.» Er stand hinter ihrem Beschluss.

Während diesem Anruf fragte ihn Siegmann auch, ob er weiterhin ihr Trainer bleiben würde. Die Antwort war klar: «Ja.» Bis heute haben die beiden nie wieder zusammen trainiert. «Das beschäftigt mich jeden Tag. Es ist brutal hart und schwer zu akzeptieren. Wenn ich an einem Turnier war und ihn sah, musste ich direkt weinen.»

Weil es ihr peinlich war, rannte sie auf die Toilette und versteckte sich. Ab und zu konnte sie dem Gespräch nicht aus dem Weg gehen. «Er tat so, als wäre nichts.» Siegmann ist erschüttert. Ihr Ex-Coach will sich dazu nicht äussern, wie er Blick am Telefon erklärte. 

Eine Müllhalde im Zimmer

Einmal mehr stand Siegmann am Abgrund. «Ich wusste nicht mehr, wie weiter.» Alles war weg. «Meine Vater-Figur und die besten Pferde, die mir meinen Traum vom Profi-Reiten hätten ermöglichen können.» Ohne die Reitstunden blieb ihr nebst dem Sportler-KV viel Freizeit. «Das Zimmer sah aus wie eine Müllhalde», meint ihre Mutter. Nach ein paar Monaten riss ihr Geduldsfaden. «Da konnte es auch einmal laut werden.» Verzweifelt suchten die beiden nach einer Lösung.

Fündig wurden sie in Österreich. Anna Siegmann durfte die Pferde einer Familie bewegen und pflegen. «Sie haben mir vertraut und waren dankbar. Das habe ich jetzt über ein Jahr fast nie gespürt.» Im Nachbarland kam die Freude am Reiten zurück. 

Leo verleiht ihr neue Energie

Trotzdem befindet sich Siegmann aktuell in einer energetischen Therapie. Mit der Hilfe von Gesprächen und sonstigen Methoden will sie das Geschehene verarbeiten. Was sie in Zukunft machen möchte, ist ihr mittlerweile wieder klar: «Ich will reiten, und das an der Weltspitze.» Über die Zeit bei Bücheler sagt sie: «Es war eine Lebensschule. Ich bereue nichts. Dank seinen Top-Pferden durfte ich Erfahrungen auf sehr hohem Niveau sammeln.» 

Seit einigen Wochen reitet Siegmann ein achtjähriges Pferd von einem neuen Pferdebesitzer, der ihr vertraut. Leo heisst das Tier. «Er gibt mir wieder Perspektiven.» Täglich fährt sie eine halbe Stunde zu seinem Stall. Bald will sie mit ihm an die ersten Turniere reisen. Der Jeep wartet vor dem Haus.

Und ihre Mutter? «Es geht mir immer besser», meint sie. Aber der Kampf gegen den Brustkrebs wird das Duo noch eine Weile beschäftigen.

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