Wird Jonas Vingegaard der erste oder zweite dänische Sieger der Tour-Geschichte? Darüber scheiden sich die Geister. 1996 gewann Bjarne Riis (58) zwar als erster Wikinger die Grande Boucle, allerdings legte er Jahre später ein umfassendes Dopinggeständnis ab. Zuerst strichen ihn die Tour-Organisatoren aus der Siegerliste, machten dies aber rückgängig, weil die Verwendung von Doping nach acht Jahren verjährt. Was geblieben ist: Der Name Riis löst gemischte Gefühle aus.
Vingegaard kann dies egal sein. Er löste schon jetzt viel mehr positive Emotionen in Dänemark aus, als der kühl wirkende Riis vor 26 Jahren. Mit seinen 60 Kilo wirkt Vingegaard einerseits unscheinbar, anderseits ist er aber deutlich nahbarer als sein Vorgänger. «Er ist einfach er selbst. Es ist rührend, das zu verfolgen», sagt Karsten Mikkelsen in der dänischen Zeitung «BT». Mikkelsen ist weder Vingegaards Teamboss bei Jumbo-Visma noch sein persönlicher Coach. Nein, er ist Miteigentümer der Fischfabrik, in der der neue Rad-Star vor vier Jahren noch schuftete.
Die Arbeit in der Fabrik trug Früchte
2018 häutete Vingegaard Fische bei «Crisfish» in Hanstholm an der dänischen Küste. Er stand am Fliessband und packte daraufhin die Fische in Styroporkisten. Organisiert hatte dies sein ehemaliger Teamchef Christian Andersen. Warum? Weil er wollte, dass Vingegaard Struktur und Disziplin in sein Leben bringt. Die Folge? Jeden Tag kümmerte sich Vingegaard von sechs Uhr in der Früh bis Mittags um Dorschfilets – später überwachte er noch die Fisch-Auktion. «Jonas ist immer sehr früh gekommen und hat direkt losgelegt», blickt Mikkelsen zurück. Erst nach der Arbeit schwang sich Vingegaard fürs Training aufs Rad.
Zu diesem Zeitpunkt war Vingegaard bereits 21 Jahre alt. Sein Talent im Team Colo-Quick war unverkennbar, aber gleichzeitig lebte er nicht so professionell, wie man dies erwartet hatte. Mit dem Wechsel zum mächtigen holländischen Team Jumbo-Visma wurde Vingegaard 2019 dann bewusst, welch grosse Chance er besass. Und der Mann mit dem Schulbub-Ausdruck packte sie, trainierte wie ein Verrückter, wurde besser und besser.
Tränen schon vor der Tour
«Für mich ist er der stärkste Bergfahrer der Welt», sagte sein grosser Tour-Gegenspieler Tadej Pogacar (23, Slo) noch vor Beginn der Grande Boucle. Er sollte recht behalten. Vingegaard liess alle stehen, in der 11. Etappe hinauf zum Col de Granon schockte er die Rad-Welt mit einer Machtdemonstration, wie man sie lange nicht gesehen hatte. Pogacar, der zweifache Tour-Sieger (2020 und 2021), verlor fast drei Minuten. Damit hatte keiner gerechnet.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Vingegaard in Höhen von mehr als 2000 Meter über Meer so richtig in Fahrt kommt. Denn: Die höchste Erhebung Dänemarks, die Yding Skovhöj, liegt gerade einmal auf 173 Meter über Meer. Letztlich ist es aber vor allem die Art neben dem Velo, die den schüchtern wirkenden Vingegaard populär macht. Wir erinnern uns: Als Tausende Zuschauer bei der Team-Präsentation im dänischen Freizeitpark seinen Namen skandierten, konnte er die Tränen nicht zurückhalten. «Das bedeutet mir sehr viel», sagte er.
Für Trine und Frida macht er alles
Gleichzeitig sah man Vingegaard häufig nach seinen Siegen am Telefon. «Ich will so schnell wie möglich mit meiner Familie reden», begründete er. Seine Familie: Das ist vor allem seine Frau Trine und sein Töchterchen Frida. Letztere ist bald zweijährig. Zuletzt postete Vingegaard ein Bild auf Instagram, wie Frida am Steuer des Jumbo-Teambusses sass und das Lenkrad hielt. «Der perfekte Ruhetag bei der Tour», schrieb Vingegaard dazu. Wahrscheinlich ist, dass der neue Rad-Held seine Tochter auch am Sonntag in den Armen halten wird – in Gelb und auf dem obersten Tour-Podest.