Foto: Thomas Meier

Unser Trumpf im Strassenrennen
Hirschi will an der WM seine Karriere vergolden

Auch wenn der Tod von Muriel Furrer (†18) die ganze Rad-Szene erschüttert: Das WM-Strassenrennen der Männer ist und bleibt am Sonntag der Höhepunkt des Grossevents. Marc Hirschi (26) will dabei eine Hauptrolle spielen.
Publiziert: 29.09.2024 um 09:32 Uhr
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Aktualisiert: 29.09.2024 um 09:51 Uhr
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Die WM-Form von Marc Hirschi stimmt.
Foto: foto-net / Cor Vos
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Mathias GermannReporter Sport

Es ist Tag eins nach der Tragödie rund um Muriel Furrer (†18). Und gleichzeitig für Marc Hirschi (26) Tag eins vor dem vielleicht wichtigsten Wettkampf seiner Karriere. Wie soll er, der grosse Schweizer Medaillen-Trumpf, diesen Spagat der Gefühle meistern? Tagelang, wochenlang, monatelang hat er sich auf dieses WM-Strassenrennen vorbereitet. Und nun steht es kurz bevor.

«Ich habe die WM in Zürich schon sehr lange im Kopf», bestätigt er. Der Berner spricht in einer virtuellen Runde zu einigen Schweizer Journalisten – das persönliche Treffen vom Freitagmorgen wurde nach Furrers schlimmem Unfall am Donnerstag abgesagt. Zu jenem Zeitpunkt lag die Juniorin schwer verletzt, aber lebend, im Universitätsspital Zürich. Nun, als Hirschi redet, ist sie verstorben. Eine Tragödie. «Marc wird sich nicht zu diesem Thema äussern. Bitte fragt auch nicht danach», hatte Swiss Cycling einleitend gebeten, ehe sich Hirschi vor den Laptop setzte. Hirschi berichtet davon, dass er sich sehr gut fühle und viel Selbstvertrauen habe. Und dass er kürzlich einige Tage in Mallorca gewesen sei – auch, um den Kopf zu lüften. «Ich bin bereit», sagt Hirschi. Dennoch ist auch ihm klar, dass genau dies auch andere sind. Er wird am Sonntag in die Pedale treten müssen, als gäbe es kein Morgen.

Hirschi ist kaum daheim

In die Pedale treten kann Hirschi wie nur ganz wenige. «Aber auf dem Wasser habe ich noch viel Verbesserungspotenzial», sagt er schmunzelnd. Einige Wochen vor der WM treffen wir den Berner zu einem Gespräch auf dem Pedalo. Wo? Nur wenige Meter von der damals virtuellen WM-Ziellinie neben dem Sechseläutenplatz im Herzen von Zürich. «Es ist schon ziemlich lange her, dass ich auf einem Pedalo war. Auf der Aare bin ich deutlich häufiger als auf dem Zürichsee. Meistens ein- bis zweimal im Jahr. Dann fahre ich mit Kollegen mit dem Zug nach Thun, und dort steigen wir in ein Gummiboot. Bis wir wieder in Bern sind, dauert es etwa drei Stunden. Ich geniesse es sehr, in dieser Zeit zu plaudern, trinke Eistee und schwimme zwischendurch.»

Das Problem: Für solche Wasser-Plauschtage hat Hirschi nur begrenzt Zeit. Im Sommer ist er meist mit dem Team UAE Emirates unterwegs bei Rennen oder in Trainingslagern. Und wenn er mal daheim in Ittigen ist, muss das Wetter auch mitspielen, wenn er auf die Aare will. «Aber ich beklage mich sicher nicht. Schliesslich darf ich das, wovon ich immer geträumt habe, als Beruf ausüben», sagt er.

Die Form stimmt

Genau das tat Hirschi zuletzt mit durchschlagendem Erfolg. Zwischen dem 10. August und dem 14. September schaffte er das, was wohl noch keinem Schweizer je gelang: Er gewann fünf Eintagesrennen in Folge – zuerst zwei stark besetzte World-Tour-Bewerbe (Clásica San Sebastián und Bretagne Classic) und danach drei kleinere Rennen in Italien. Wie? Solo, nach einem Zweier-Sprint oder aus einer kleinen Gruppe heraus. Hirschis Repertoire ist so gross und seine Form derart bestechend, dass die Schweizer Rad-Fans vom ersten Strassenweltmeister seit Oscar Camenzind (53) träumen – der Gersauer gewann 1998 in Valkenburg (Ho).

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Träumt auch Hirschi von WM-Gold? Er spricht lieber vom starken Team, das die Schweiz habe, und den drei Karten, die man spielen könne. Auch Stefan Küng (30) und Mauro Schmid (24) bringen das Potenzial für eine Überraschung mit. «Wir wollen in jeder Situation des Rennens jemanden vorne dabeihaben. Und dann klappt es hoffentlich.»

Favorit Pogacar

Nati-Trainer Michael Albasini (43) weiss, was er an Hirschi hat. «Marc ist nicht einer wie Tadej Pogacar, der zehnmal einen raushauen kann und irgendwann wegkommt. Aber das kann fast niemand. Seine grosse Stärke ist, dass er die Geduld und das Gespür hat, wann er attackieren muss. Und dann gibt es nur ganz wenige, die ihm folgen können – wenn überhaupt.» Tatsächlich ist Pogacar, der in diesem Jahr den Giro und die Tour gewann, der grosse Favorit auf Gold. Gibt es ein Rezept, um ihn zu schlagen? «Man muss ihn von seinen Helfern isolieren. Dann würde Tadej wohl relativ früh attackieren, weil er die anderen nicht kontrollieren kann.» Und was sagt Pogacar? Als Blick ihn am Donnerstag auf Hirschi anspricht, sagt er: «Marc ist für mich eines der heissesten Eisen auf diesem Parcours. Meiner Meinung nach bringt er alles mit, um Weltmeister zu werden.»

Die Favoriten im Strassenrennen

Fünf Sterne

Tadej Pogacar (26, Sln)

Gewann im Juli die Tour, im Mai den Giro, beide mit riesigem Vorsprung. Auch bei Eintagesrennen top. Aber: Bei den sehr langen WM-Rennen zeigte er auch schon Schwächen (Zürich: 274 km). Weltmeister wurde er noch nie.

Vier Sterne

Remco Evenepoel (24, Bel)

Nutzte in Paris die Gunst der Stunde, wurde in Abwesenheit von Pogacar Doppel-Olympiasieger. Verteidigte in Zürich das Regenbogentrikot im Zeitfahren. Gelingt ihm das Double-Double?

Drei Sterne

Mathieu van der Poel (29, Ho)

Der Mann der letzten WM. Liess auf der coupierten Strecke in Glasgow alle stehen, gewann trotz ­Ausrutscher soll. Sieger der Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix im Frühling.

Zwei Sterne

Marc Hirschi (26, Sz)

Fünf Eintagesrennen in Folge hat der Berner im ­Sommer gewonnen. Ein dickes Ausrufezeichen vor der Heim-WM. Scheint trotz 16. Platz an Olympia in der Form seines Lebens zu sein.

Primoz Roglic (34, Sln)

Anfangs September Vuelta-Gesamtsieger. Zum vierten Mal. Starke Reaktion nach dem Tour-Aus. Doch: Bekommt er die Freiheiten, wenn bei Landsmann Pogacar alles normal läuft?

Fünf Sterne

Tadej Pogacar (26, Sln)

Gewann im Juli die Tour, im Mai den Giro, beide mit riesigem Vorsprung. Auch bei Eintagesrennen top. Aber: Bei den sehr langen WM-Rennen zeigte er auch schon Schwächen (Zürich: 274 km). Weltmeister wurde er noch nie.

Vier Sterne

Remco Evenepoel (24, Bel)

Nutzte in Paris die Gunst der Stunde, wurde in Abwesenheit von Pogacar Doppel-Olympiasieger. Verteidigte in Zürich das Regenbogentrikot im Zeitfahren. Gelingt ihm das Double-Double?

Drei Sterne

Mathieu van der Poel (29, Ho)

Der Mann der letzten WM. Liess auf der coupierten Strecke in Glasgow alle stehen, gewann trotz ­Ausrutscher soll. Sieger der Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix im Frühling.

Zwei Sterne

Marc Hirschi (26, Sz)

Fünf Eintagesrennen in Folge hat der Berner im ­Sommer gewonnen. Ein dickes Ausrufezeichen vor der Heim-WM. Scheint trotz 16. Platz an Olympia in der Form seines Lebens zu sein.

Primoz Roglic (34, Sln)

Anfangs September Vuelta-Gesamtsieger. Zum vierten Mal. Starke Reaktion nach dem Tour-Aus. Doch: Bekommt er die Freiheiten, wenn bei Landsmann Pogacar alles normal läuft?

Um das zu schaffen, hat Hirschi zuletzt viel Selbstvertrauen getankt. Dabei ist es nicht so, dass der neben dem Velo schüchtern wirkende Berner sich schnell verunsichern lässt – bei weitem nicht. Sein ehemaliges Vorbild und baldiger Team-Manager bei Tudor, Fabian Cancellara (43), meint: «Neben Marc könnte ein Baum umfallen und er würde nicht mit der Wimper zucken. So war er schon immer und so ist er noch heute. Druck, wie jetzt vor der WM in Zürich, lässt ihn kalt.»

Dass Hirschi in den letzten Jahren nicht zum erhofften Seriensieger, sondern immer mehr zum stagnierenden Rad-Talent wurde, ist auch Cancellara klar. Aber warum war das so? Um das zu verstehen, muss man das Rad der Zeit zurückdrehen. Nachdem Hirschi 2018 unter anderem dank der Arbeit des mittlerweile verstorbenen Gino Mäder (1998–2026) zum U23-WM-Titel flog, unterschrieb er 2019 seinen ersten Profi-Vertrag. 2020 wurde dann zu seinem grossen Jahr: Sieg bei Flèche Wallonne, Sieg bei der Tour de France, Bronze beim Elite-Strassenrennen in Imola (It). «Hurricane Hirschi» (zu Deutsch: «Wirbelsturm Hirschi»), wie ihn einige ausländische Medien mittlerweile nannten, war der kommende Stern am Rad-Himmel. Meinte man.

Hirschi blieb nur die Helferrolle

Aber es kam anders: Hirschi wechselte vom Team Sunweb zu UAE Emirates. Trotz eines gültigen Vertrags. Es ist ein Vorgehen, das im Radsport höchst selten ist und auf ein Zerwürfnis hindeutet. Es hiess, Instinktfahrer Hirschi habe mit dem wissenschaftlich strengen Ansatz des holländischen Teams nichts anfangen können. In den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde Hirschi zum Millionär, war aber bald nur noch zweite Wahl.

Warum? Weil sich Pogacar aufmachte, zu einem der grössten Fahrer der Sportgeschichte zu werden. Hirschi blieb da oft nur die Rolle des Helfers – oder er musste Rennen fahren, die ihm wenig lagen. Zur gleichen Zeit begann eine Odyssee der körperlichen Probleme: Weisheitszähne, Hüfte, Füsse – es gab kaum etwas, das keine Sorgen machte. Auch wurde er immer wieder krank.

Auf dem Zürichsee-Pedalo blickt Hirschi zurück: «Es lief nicht immer rund. Aber ich habe nie aufgegeben. Nun bin ich an jenem Punkt, an dem ich immer sein wollte.»

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