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Tag 1 nach dem Tod von Muriel Furrer (†18)
«Das war das schwierigste Rennen meines Lebens»

Der Samstag geht als einer der traurigsten Tage des Schweizer Radsports in die Geschichte ein. Wie Fahrerinnen, Fans und Verantwortliche mit dem Tod von Muriel Furrer (†18) umgehen. Und warum noch immer vieles unklar ist.
Publiziert: 29.09.2024 um 00:13 Uhr
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Aktualisiert: 29.09.2024 um 11:09 Uhr
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Szenen eines traurigen Tages: Beim Startgelände in Uster schreiben sich die Schweizerinnen für das Strassenrennen ein.
Foto: BENJAMIN SOLAND

Das triste Wetter passt zur Stimmung an diesem Samstag. Es regnet, es ist kalt und es liegt eine gewisse Traurigkeit in der Luft. Am Donnerstag war die erst 18-jährige Zürcherin Muriel Furrer während des U19-Rennens der Rad-WM in Zürich schwer gestürzt. Am Freitagnachmittag gaben die Veranstalter bekannt, dass das Rad-Talent an den Folgen ihres erlittenen Schädel-Hirn-Traumas gestorben ist. Gleichzeitig hiess es, die Rad-WM gehe weiter. Auch auf Wunsch von Furrers Familie.

Seitdem versuchen alle, so gut es geht, den Spagat zu machen. Zwischen Rad-Fest und Trauer. Zwischen Jubel und Tränen. Zwischen «die Show muss weitergehen» und «wie konnte so etwas Tragisches nur passieren?».

Auch UCI-Boss David Lappartient muss in Zürich an einer Pressekonferenz am Samstag kurz nach 10 Uhr mit diesem Dilemma klarkommen. Zwar stellt sich der Franzose der Öffentlichkeit, gleichzeitig will oder darf er aber auf die drängendsten Fragen keine Antworten geben. «Wir wissen nicht, wie der Crash passiert ist. Das ist jetzt der Job der Polizei. Wir fühlen uns sehr schlecht. Es hätte der beste Moment der Saison werden sollen», erklärt der 51-Jährige betroffen.

Bei der Schweigeminute kämpfen die Schweizerinnen mit den Tränen

Ortswechsel. Von Zürich nach Uster. Hier starten um 12.45 Uhr die Frauen zu ihrem Strassenrennen. Kurz nach 11 Uhr ist es auf den ersten Blick ein typischer Samstagmorgen. Die Leute erledigen ihren Wochenendeinkauf und halten einen Schwatz. Je näher man zum Startgelände kommt, desto lauter hört man die Stimme von Franco Marvulli. Das ehemalige Rad-Ass ist als Speaker und Interviewer im Einsatz und stellt die einzelnen Fahrerinnen vor.

Es ist ein schmaler Grat, den Marvulli bewältigen muss. Zum einen soll das heute hier ein grosses Rad-Fest für Klein und Gross werden, zum anderen aber starb einen Tag zuvor ein talentiertes Talent beim Ausüben ihrer Leidenschaft. Eine undankbare Aufgabe für Marvulli, in der man viel verlieren, aber kaum etwas gewinnen kann.

Kurz bevor um 12.45 Uhr das Frauenrennen gestartet wird, gedenken die Fahrerinnen Muriel Furrer mit einer Schweigeminute. Die Schweizerinnen stehen dabei nebeneinander in der vordersten Reihe und haben mit den Tränen zu kämpfen.

Fast zeitgleich spielen sich auch in Zürich emotionale Szenen ab. Paracyclerin Flurina Rigling gewinnt Gold im Strassenrennen. Sie freut sich zwar völlig zu Recht über ihre grandiose Leistung, gleichzeitig kommen ihr in den Interviews danach aber die Tränen, weil sie während des Wettkampfs ständig an Furrer denken musste.

«Wir sind eine Familie – ich bin für sie gefahren»
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Rigling bei WM-Sieg in Tränen:«Wir sind eine Familie – ich bin für sie gefahren»

Ähnlich ergeht es auch Para-Radrennfahrerin Franziska Matile-Dörig. Während sie zu Silber fährt, zeigt sie bei ihrer Zieleinfahrt immer wieder auf den Trauerflor am linken Oberarm.

Noch immer viele offene Fragen

Erneuter Ortswechsel. Der Wald oberhalb von Küsnacht. Hier verunglückte Muriel Furrer am Donnerstag tödlich. An der mutmasslichen Unfallstelle kommen die Fahrerinnen am Samstag um 13.49 Uhr ein erstes Mal vorbei. Mittlerweile ist der Regen wieder stärker geworden. Weit nach vorne gebeugt, den Kopf unten haltend, rast die Spitzengruppe die nasse Abfahrt hinunter. The show must go on.

Was genau hier in diesem Wald am Donnerstag passiert ist, das ist nach wie vor unklar. Blick-Recherchen ergaben am Freitag, dass Furrer offenbar unbemerkt von allen gestürzt sein muss. Dies soll gegen 11 Uhr passiert sein. Als um 12.45 Uhr ein Paracycling-Rennen an der mutmasslichen Unfallstelle vorbeiführte, standen in jener Linkskurve Ambulanzen mit Blaulicht.

Wie lange die dort schon standen und die Rettungskräfte mit der Bergung von Furrer beschäftigt waren, ist nicht bekannt. Allzu lange kann dies aber eher nicht gewesen sein, denn erst um 12.52 Uhr startete in Dübendorf der Rega-Helikopter, der dann 12.56 Uhr unterhalb des Waldes gelandet war. Um 13.32 Uhr hob dieser wieder ab und kam vier Minuten später im Zürcher Unispital an.

In einem Interview erklärt Olivier Senn, der Sportliche Leiter der Rad-WM, am Samstagnachmittag: «Wir wissen, wo Muriel gefunden wurde, wissen aber nicht, wie die Unfallstelle genau aussieht. Es scheint, unbeobachtet geschehen zu sein.»

Als Blick sich am Samstagnachmittag in die Nähe der möglichen Unfallstelle begibt, steht neben einer schwarzgelben Plache, die die Fahrerinnen vor der Linkskurve warnen soll, eine rote Kerze am Boden. Sollte Furrer tatsächlich hier gestürzt sein, wäre es durchaus möglich, dass das niemand mitgekriegt hat. Lag sie deshalb während längerer Zeit alleine bewusstlos und schwerverletzt im Waldstück? Denkbar wäre dieses Szenario, denn im Gegensatz zu Rennen auf der World Tour gibt es an der WM keine Funkverbindung zwischen den Fahrerinnen und den Sportlichen Leitern.

Zudem ist es an der Stelle ziemlich unübersichtlich. Am Ausgang der Linkskurve geht es dahinter mehrere Meter den Hang hinunter. Und der Wald ist an dieser Stelle verwuchert und von oben kaum einsehbar.

Gegen 14.45 Uhr wird der Regen an diesem Samstagnachmittag noch einmal deutlich stärker. Mittlerweile zieht gar Nebel auf. Erneut rauschen die Fahrerinnen in hohem Tempo die Abfahrt hinunter. Im Vergleich zu den letzten Tagen sichern sichtbar mehr Leute die Strecke ab.

«Es gibt Wichtigeres im Leben»

Ein letzter Ortswechsel. Zurück nach Zürich, zur Schlussphase des Frauenrennens. Noemi Rüegg, die derzeit stärkste Schweizerin, leidet an der Zürichbergstrasse. Hier, wo es bis zu 17 Prozent steil ist, peitschen sie die Zuschauer nach oben. «Die Stimmung war super, ich konnte sie aufsaugen. So etwas, ein Rennen mitten durch Zürich, werde ich wohl nie mehr erleben.»

Als sie das sagt, steht sie durchnässt und schlotternd in der Mixed Zone. Es ist nach 17.30 Uhr, kurz zuvor hat sie die Ziellinie am Sechseläutenplatz als Elfte überquert. «Es war schön, die Familie danach in den Arm zu nehmen», sagt sie.

Die Fahnen, die neben dem Interview-Zelt auf halbmast wehen, würden sogar einem Touristen auffallen, der nichts von den Ereignissen der letzten Tage mitbekommen hat. Die Stimmung ist dem Wetter entsprechend: gedrückt. «Das war das schwierigste Rennen meines Lebens», sagt Rüegg. Hinter ihr fahren Athletinnen im Schritttempo vorbei, die allermeisten werden gar nicht zum Gespräch gebeten und sind froh darüber. Sie sind abgekämpft, müde, haben kalt. Auf ihren Wangen kullern Wassertropfen herunter und man denkt sich, dass es auch Tränen sein könnten. Ihre Blicke? Sind, vielleicht mit Ausnahme der Belgierin Lotte Kopecky, die erneut Weltmeisterin wird, leer. «Ich habe im Rennen zwischendurch an Muriel gedacht», erzählt Rüegg. Sie sei zwar stolz über ihre Rangierung, aber letztlich sei sie egal. «Es gibt Wichtigeres im Leben», sagt sie.

Draussen ist es mittlerweile nicht mehr nur nass. Nein, auch die Dunkelheit zieht über Zürich hinein – und das, obwohl es erst kurz nach 18 Uhr ist. Es ist an der Zeit, dass dieser Samstag endlich endet und es scheint, als hätte für einmal keiner etwas dagegen.

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