Es ist die Ironie des Schicksals. Stefan Küng steht in einem Seitengässchen von Vaduz. Er ist durchgeschwitzt, enttäuscht, leer. Soeben hat er den Sieg beim Zeitfahren der Tour de Suisse verpasst. Dritter, nur Dritter. Er blickt bei 35 Grad im Schatten minutenlang Richtung Boden. Und was passiert einen Meter daneben? Da geht in der Eisdiele «Dolce Vita» ein Glacé nach dem anderen über den Tresen. Was für ein Kontrast.
«Ich wollte für meine Familie gewinnen. Unterwegs habe ich an sie gedacht. An den Kleinen, der gewartet hat, bis die Tour vorbei ist. Leider habe ich es nicht geschafft», sagt Küng. Was er meint, ist klar: Der Thurgauer wird zum ersten Mal Vater, seine Frau Céline ist hochschwanger – es wird ein Bub. «Das hatte ich jeden Tag und jede Nacht im Kopf», sagt er. Der ursprüngliche Geburtstermin liegt bereits eine Woche zurück.
Vom 12. bis 19. Juni 2022 findet mit der Tour de Suisse das Schweizer Radsport-Highlight des Jahres statt. Alle Gesamtstände, Resultate, Live-Ticker sowie Infos zu den Fahrern, findest du im grossen Datencenter.
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«Habe mit dem Doktor telefoniert»
Wie Küng verrät, habe er zwischenzeitlich überlegt, die Tour zu verlassen, obwohl seine Frau noch keinen Alarm geschlagen hatte. Warum? Wegen der Corona-Welle, die zwischenzeitlich über die Tour schwappte. «Ich habe mit dem Doktor telefoniert und gefragt, ob es besser wäre, auszusteigen. Es hätte es ja auch mich erwischen können. Doch wir kamen zum Schluss, dass das Risiko überschaubar ist.»
Küng fuhr darum weiter. Und wie! In beiden Bergetappen hielt er lange mit den Besten mit. «Ich habe mich selbst und viele andere überrascht. Darauf bin ich sehr stolz», sagt er. Tatsächlich: Mit Rang 5 im Gesamtklassement hätte vor einer Woche niemand gerechnet. Damit ist Küng der bestklassierte Schweizer seit Mathias Frank (35) im Jahr 2014 – der Luzerner wurde damals Zweiter.
Küng sucht keine Ausreden
Bei Hälfte des Zeitfahrens liegt Küng noch knapp vor dem späterem Sieger, Remco Evenepoel (22). Doch dann überdreht Küng seinen Motor, verliert Sekunde um Sekunde. Im Ziel liegt das belgische Rad-Wunderkind 11 Sekunden vor Küng, der auch noch von Gesamtsieger Geraint Thomas (36) überholt wird. «Ich war im tiefroten Bereich. Letztlich habe ich mich nur dank purem Durchhaltewillen und Willenskraft ins Ziel gekämpft», so Küng.
Ausreden sucht der Zeitfahr-Europameister nicht. Gleichzeitig ist bekannt, dass ihm kühleren Temperaturen viel besser liegen. «Das Zeitfahren ist eine ehrliche Disziplin. Andere waren heute besser.»
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Nun freut sich Küng auf zu Hause. «Jetzt liegt der Fokus auf der Familie. Daheim wartet etwas Schönes.» Sicher ist: Sein künftiger Sohn wird ihn genau gleich lieben – egal, ob er einen Sieg mehr oder weniger im Palmarès hat.