Frauen-Radsport ist langweilig! Wer so etwas nach der vierten und letzten Etappe der Tour de Suisse Women behauptet, lebt hinter dem Mond. Denn: Das Rennen ist an Dramatik kaum zu überbieten und dürfte noch lange im Gedächtnis haften bleiben.
Doch der Reihe nach: Das erste Kapitel des grossen Finales schreibt ausgerechnet eine Schweizerin, Jolanda Neff (29). Die Mountainbike-Olympiasiegerin geht entgegen vieler Vermutungen nicht im Anstieg zum Wolfgangpass, sondern in dessen Abfahrt hinunter nach Tiefencastel in die Offensive. Gemeinsam mit der Holländerin Lucinda Brand (32, Ho) fliegt Neff im Stile eines Habichts die Strasse runter.
Die St. Gallerin riskiert viel. Die Folge: Der Vorsprung des Duos wächst und wächst, schon bald beträgt er knapp eine Minute. Im Aufstieg nach Lenzerheide wird aber rasch klar: Neff wird es nicht schaffen. Im Gegenteil, sie überdreht den Motor und fällt ausser Rang und Traktanden.
Was bleibt, ist die Spannung. Brand kämpft im strömenden Regen, doch ihr Vorsprung schmilzt. Hinten ist Leaderin Kristen Faulkner (29, USA) auf sich alleine gestellt, macht aber Tempo und kommt immer näher. Dann, zwei Kilometer vor dem Ziel, holt sie Brand ein. Hat diese nun das Rennen verloren? Nein! Sie tritt im kurvenreichen Finale an, während Faulkner auf der nassen Strasse wegrutscht. Brand holt sowohl den Etappen- als auch den Gesamtsieg. «Ich wusste, dass es zum Schluss technisch werden würde. Also blieb ich vor ihr, das war entscheidend», so Brand. Ihre ursprüngliche Fluchtgefährtin Neff verliert fast eineinhalb Minuten, wird Zehnte und Gesamt-Fünfte.
«Es machte mir noch mehr Angst»
Nach der ersten gewinnt Brand damit auch die vierte Tour-Etappe. Sie erlebt die erfolgreichste Phase ihrer Karriere. Doch die Radquer-Weltmeisterin von 2021 weiss, dass es Wichtigeres gibt im Leben. Nicht nur, weil sie zu Beginn ihrer Karriere im Pflegebereich arbeitete. Nein, auch weil ihre Mutter Aafje einst einen Hirnschlag erlitt. Und ihr Vater Fred 2020 ebenfalls. Beide Male kümmerte sich Brand rührend um sie.
«Auf der einen Seite hatte ich die Erfahrung mit meiner Mutter, auf der anderen machte es mir bei meinem Vater noch mehr Angst, weil ich genau wusste, was sich abspielte», erzählte Brand gegenüber «Velonews». Beide dürften nun besonders stolz auf die Tochter sein.