Es ist noch früh morgens, Stefan Küng (29) liegt in seinem Bett. Er schaut durchs Fenster, sieht in der Ferne die Churfirsten. Eine traumhafte Aussicht. Auf einmal stellt Küng fest, dass sich, deutlich näher, etwas bewegt. Auf einem Felsvorsprung, gleich neben einem Schneefeld. «Drei kleine Steinböcke und zwei Murmeli kamen vorbei, um mir guten Morgen zu sagen», erzählt er schmunzelnd.
Küng verbrachte vor der Tour de Suisse zehn Tage und Nächte auf dem Säntis auf 2502 Meter über Meer. Um jenen Höheneffekt zu erzielen, der Ausdauersportlern nützt – die roten Blutkörperchen im Körper mehren sich, deren Sauerstoffaufnahme wird gesteigert und so die Leistung verbessert. «Es geht darum, möglichst viele Stunden auf dem Berg zu verbringen. Hier ist das ideal», so Küng. Eine Woche vor dem Auftaktzeitfahren der Tour de Suisse gewährt er uns einen Einblick in seine Welt.
Diese ist geprägt von Kontrasten. Auf der einen Seite sind da die hochmoderne Bahn von der Schwägalp hinauf zum Säntis. Auch das Bergrestaurant lässt keine Wünsche übrig. Dazu gibt es auf dem Gipfel eine interaktive Erlebnis-Welt rund ums Thema Eis. Auf der anderen Seit ist da Küngs Alltag, der nichts mit Luxus zu tun hat.
Leben auf dem Gipfel, trainieren im Tal
Der Profi von Groupama-FDJ lebt in einem Personalzimmer für die Angestellten des Gastbetriebs – zweckmässig eingerichtet, aber nicht mehr. Bilder an der Wand? Gibts nicht. Fernseher? Fehlanzeige. Minibar? Sowieso nicht. Nicht einmal Vorhänge hats, weil das Personal auf dem Berg sowieso vor Sonnenaufgang unterwegs ist.
«Darum schlafe ich mit Augenklappe», so Küng. Die Dusche und das WC befinden sich Ende des Flurs, wo auch eine kleine Gemeinschaftsküche eingerichtet ist. «Ich koche fast immer. Dafür kaufe ich unten im Tal ein, wo ich auch trainiere. Meistens gibt es Pasta», so Küng.
Der grosse Sieg fehlt noch
Als Favorit fürs Zeitfahren in Einsiedeln SZ sieht sich Küng nicht. Sein grosses Ziel ist die WM im August. Kommt dazu, dass er sich nach wie vor vom Giro d'Italia erholen muss. Wir erinnern uns: Dort wollte er gleich zu Beginn die Maglia Rosa, das Leadertrikot, erobern. Es klappte nicht, Küng wurde Fünfter. Und auch beim zweiten Kampf gegen die Uhr verpasste er seinen ersten Sieg bei einer grossen Rundfahrt. Wie? Denkbar knapp, mit nur vier Sekunden Rückstand auf den Sieger – und das nach 35 Kilometern. «Meine Leistung war gut, aber das Ziel habe ich nicht erreicht», sagt er selbstkritisch.
Genau diesen Satz formulierte Küng in den vergangenen Jahren nach wichtigen Zeitfahren oft – zu oft. Immer wieder versuchte er es, immer wieder bereitete er sich perfektionistisch veranlagt, wie er ist, auf die wichtigsten Rennen vor. Bloss: Stets standen ihm letztlich andere vor der Sonne. Und das in denkbar knapper Form.
Beispiele gefällig? Bei der Tour de France 2017 fehlten Küng 5 Sekunden zum Sieg, an der WM 2020 wurde er Dritter (+29 Sekunden), ein Jahr darauf bei der Tour de France Zweiter (+19 Sekunden), und 2022 verpasste er seinen zweiten Europameistertitel um eine Sekunde. Besonders brutal war Olympia im vorletzten Jahr – in Tokio verpasste er eine Medaille wegen vier Zehntelsekunden. «Das musste ich zuerst einmal verdauen, ich fiel in ein Loch», gibt Küng zu. Als Stefan Küng wieder zu Hause war, hätten ihm viele gratuliert. «Aber ich fragte mich, wofür. Schliesslich zählen bei Titelspielen nur die Top 3.»
«Ein Ausnahmeathlet wie Pogacar bin ich nicht»
Küng steht längst mitten im Leben, seit einem Jahr sind seine Frau Céline und er Vater eines kleinen Sohnes. Sein Name: Noé. «Er ist unser grösstes Glück», sagt er. Dennoch: Hat er rückblickend nicht den Eindruck, dass sich alle Rad-Götter gegen ihn verschworen haben? Küng lächelt. «Es gibt Ausnahmeathleten wie Tadej Pogacar. Er fragt sich nicht, ob er gewinnt, sondern nur, wie er es tun wird. So einer bin ich nicht. Aber ansonsten habe ich alle, die in wichtigen Zeitfahren vor mir waren, schon geschlagen.» Seine Stunde wird irgendwann noch schlagen – darauf hofft Küng. «Ich versuche alles und muss mir nichts vorwerfen. Und ich habe ja auch schöne Erfolge feiern können. Aber klar, der grosse Sieg fehlt mir noch.»
Bei der Tour de Suisse strebt er nach 2018 und 2021 seinen dritten Tagessieg an. «Obwohl ich nicht in Top-Form bin, ich werde alles versuchen. Die Tour de Suisse ist schliesslich mein Lieblingsrennnen.» Auch den Termin des abschliessenden Zeitfahrens in einer Woche in St. Gallen hat sich der Thurgauer, der in Frauenfeld lebt, rot angestrichen.
5 Sterne: Remco Evenepoel (23, Be). Ein Ausnahme-Athlet, der sich dessen bewusst ist. 2022 Weltmeister und Vuelta-Sieger, zuletzt gab er den Giro (als Führender) wegen Corona auf. Weltklasse im Zeitfahren.
4 Sterne: Juan Ayuso (20, Sp). «Für sein junges Alter ist er extrem reif», sagt Teamkollege Marc Hirschi. Ayuso ist trotz seiner Grösse (1,83 m) am Berg sackstark. Ein Mann für die Zukunft.
3 Sterne: Neilson Powless (26, USA). Vierter bei der letzten Tour de Suisse. Der Mann aus Kalifornier ist ein hervorragender Allrounder, hat aber keine herausragende Stärke. Erst vier Profi-Siege.
2 Sterne: Gino Mäder (26, Sz). Die grosse Schweizer Hoffnung. Mäder wurde bei der Vuelta 2021 Gesamt-Fünfter – als Helfer. Ein sensibler Fahrer, der sich manchmal zu viel überlegt. Klasse hat er.
1 Stern: Romain Bardet (32, Fr). Er war auserkoren, die Tour de France zu gewinnen und die Franzosen zu erlösen. Doch der feingliedrige Bergfahrer kam mit dem Druck nicht klar. Im Herbst der Karriere.
5 Sterne: Remco Evenepoel (23, Be). Ein Ausnahme-Athlet, der sich dessen bewusst ist. 2022 Weltmeister und Vuelta-Sieger, zuletzt gab er den Giro (als Führender) wegen Corona auf. Weltklasse im Zeitfahren.
4 Sterne: Juan Ayuso (20, Sp). «Für sein junges Alter ist er extrem reif», sagt Teamkollege Marc Hirschi. Ayuso ist trotz seiner Grösse (1,83 m) am Berg sackstark. Ein Mann für die Zukunft.
3 Sterne: Neilson Powless (26, USA). Vierter bei der letzten Tour de Suisse. Der Mann aus Kalifornier ist ein hervorragender Allrounder, hat aber keine herausragende Stärke. Erst vier Profi-Siege.
2 Sterne: Gino Mäder (26, Sz). Die grosse Schweizer Hoffnung. Mäder wurde bei der Vuelta 2021 Gesamt-Fünfter – als Helfer. Ein sensibler Fahrer, der sich manchmal zu viel überlegt. Klasse hat er.
1 Stern: Romain Bardet (32, Fr). Er war auserkoren, die Tour de France zu gewinnen und die Franzosen zu erlösen. Doch der feingliedrige Bergfahrer kam mit dem Druck nicht klar. Im Herbst der Karriere.
Und was ist mit dem Gesamtklassement? Immerhin wurde Küng im letzten Jahr Fünfter, obwohl ihn Corona am Ende in die Knie gezwungen hatte. «Nein, da liegt nichts drin. Dafür hätte erstens mein Rennprogramm anders sein müssen, und zweitens gibt es dafür diesmal einige Pässe zu viel», so der 80-Kilo-Mann.
Strand? Nein, Küng liebt die Berge
Zurück zu seinem Leben auf dem Säntis. Eigentlich hätte Küng auf die Gipfeltage verzichten können, schliesslich hat er zu Hause in Frauenfeld ein Höhenzimmer, mit dem er die gleichen Bedingungen mit wenig Sauerstoff simulieren kann. «Stimmt. Aber dort ist die Ablenkung gross. Céline sagt zwar immer, ich solle mich ausruhen. Doch wenn sie und Noé im Nebenzimmer sind, kann ich das nicht. Dann will ich auch bei ihnen sein oder etwas am Haus machen. Auf dem Säntis ist das anders. Hier kann ich mich abschotten – es geht 24 Stunden am Tag darum, wie ich meine Leistung auf dem Velo verbessern kann.»
Es gibt noch einen Grund, warum Küng sein Leben im Alpstein mag: Er liebt die Berge. «Schon als Kind war dies so. Als es darum ging, ob wir in den Ferien an den Strand fahren sollten, entschied ich mich immer für die Berge. Sie haben etwas Magisches.»
Tatsächlich zeigt Küng bei einem Rundgang zur berühmten Wetterstation, wie gut er die Gipfel rundherum kennt. «Frümsel, Brisi, Zuestoll …», er zählt mühelos die Churfirsten auf. Oft schaue er abends in seinem Zimmer durchs offene Fenster, wie die Sonne untergeht, so Küng – da könne kein TV-Programm mithalten. «Dann habe ich das Gefühl, fast im Himmel zu sein», meint er mit strahlenden Augen. Und ergänzt: «Der Säntis ist definitiv mein Kraftort.»