Sie waren gut, sehr gut sogar. Aber nicht gut genug – zumindest nicht für den Sieg. Marlen Reusser (32) und Stefan Küng (30) haben genug von den Plätzen 3 bis 9. Bei den Frühjahresklassikern wollen sie zuoberst aufs Treppchen. Entweder bei der Flandernrundfahrt (31. März) oder bei Paris–Roubaix (7. April). Doch wie stehen ihre Chancen?
Sowohl Reusser als auch Küng sind exzellente Zeitfahrer. Und sie träumen von Siegen bei den Olympischen Spielen in Paris (26. Juli bis 11. August) und der Heim-WM in Zürich (21. bis 29. September). «Bis dahin dauert es noch lange. Es ist also kein Problem, um nach den Frühjahresklassikern einen neuen Formaufbau zu machen», so Küng. Heisst: Er ist bereit, sich in Belgien und Frankreich zu 100 Prozent zu verausgaben.
Gleiches gilt für Reusser. Vor allem die Flandernrundfahrt mit ihren kurzen, knackigen Steigungen auf Kopfsteinpflaster und der beachtlichen Länge von 163 Kilometer liegen der Powerfrau aus Hindelbank BE. Dass sie Ende Februar Corona erwischte, war nicht ideal, beunruhigt Reusser aber nicht – sie sei viel besser in Form als im letzten Jahr.
«Die Flandernrundfahrt ist ein Rennen, das mir liegt und ich gerne einmal gewinnen würde. Ein Monument – etwas vom Grössten überhaupt.» Vor zwei Jahren war sie als Fünfte nahe dran, im letzten Jahr wurde sie Siebte – dies, weil sie für ihre Teamkolleginnen arbeiten musste.
Reusser wäre überall sonst die Nummer 1
Womit wir bei Reussers grösstem Problem sind. Ihr Team SD Worx ist so stark, dass gleich mehrere Fahrerinnen gewinnen können. Vor allem Demi Vollering (27, Ho) und Lotte Kopecky (28, Be) zählen zu den Besten im Frauen-Radsport. So wie Reusser auch – doch sie wird oft für die beiden geopfert, weil sie mit ihrer Tempohärte auch eine ideale Helferin ist.
Reusser ist sich bewusst: «Ich muss einfach meinen Solo-Moment erwischen. Denn sobald wir in einer Gruppe ankommen, bin ich jene, die für die anderen anfährt.» Wie lange sie für diese Rolle noch Lust hat, ist offen – ihr Vertrag mit SD Worx läuft nach dieser Saison aus. Fakt ist: Bei fast jeder anderen Equipe wäre Reusser Teamleaderin – ohne Wenn und Aber.
Küng: «Traue mir alles zu»
Diese Sorge hat Küng nicht. Er ist der Chef seiner französischen Equipe Groupama-FDJ. Am Mittwoch bei «Quer durch Flandern» zeigte er eindrücklich, wie stark er drauf ist – Küng attackierte mehrmals und sorgte dafür, dass sich die Spreu vom Weizen trennte. Am Ende wurde er Dritter. «Ich traue mir für die nächsten Rennen alles zu», sagt er.
Letztlich bleibt Küng wegen Superstar Mathieu van der Poel (29) nur die Rolle des Jägers. Der Superstar aus Holland ist, nach dem Ausfall von Wout van Aert (29, Be), mehr denn der Topfavorit. «Mann gegen Mann wird es gegen Mathieu schwierig. Weil Wout jetzt draussen ist, werden alle gegen ihn fahren. Ich hoffe auf ein chaotisches Rennen», so Küng.
Von seiner Gehirnerschütterung, die er beim EM-Zeitfahren erlitten hatte, hat sich Küng erholt. Die Bilder, wie er mit blutüberströmtem Gesicht das Ziel erreichte, bleiben präsent. «Aber das ist Vergangenheit», sagt er.
Ungleich schlimmer ist das, was Küng und seine Frau Céline kürzlich verarbeiten mussten: Wegen Komplikationen bei der Schwangerschaft verloren sie ihr noch ungeborenes Kind. Der Familienvater – Sohn Noé ist zwei Jahre alt – legte eine Pause ein. Darüber reden will er nicht – verständlich. Er sagt aber: «Früher hatte ich vor der Flandernrundfahrt und Paris-Roubaix den Leistungszenit fast schon überschritten. Jetzt bin ich körperlich und mental frisch.»
Neues Velo, neues Glück?
Etwas Neues fällt beim Thurgauer sofort auf: sein neues, weisses Velo der italienischen Traditionsmarke Wilier Triestina. «Es ist schnell, sehr schnell», freut sich Küng. «Ich war einige Male in Italien und bin begeistert, wie alle am gleichen Strick ziehen und Ideen umgesetzt werden. ‹Nein› gibt es nicht, sondern nur: ‹Wie könnten wir das machen?› Das ist toll», so Küng.
Was bleibt? Der gespannte Blick in den Norden – Reusser und Küng sind bereit.