Es wäre eine Überraschung. Nein, es wäre eine Sensation. Aber sie ist möglich. Gewinnt Sepp Kuss (28, USA) die Vuelta? Nach einer Woche und vier Bergankünften führt der Amerikaner die Gesamtwertung an – vor allen Top-Favoriten. «Das hätte ich nie gedacht. Ich geniesse es, denn das passiert nicht jeden Tag», sagt er.
Tatsächlich trug Kuss noch gar nie das Leadertrikot einer grossen Rundfahrt. Das war auch nie sein Ziel. Er geniesst es, trotz seiner enormen Fähigkeiten bei Anstiegen, für andere da zu sein. Kaum einer im Peloton geniesst die Rolle des Edelhelfers so sehr. Mutter Sabina erzählte dem «Durango Herald», der Zeitung seiner Heimatstadt in Colorado: «Er liebt die Kameradschaft und mag es, nicht nur gewinnen zu müssen.»
Kuss selbst pflichtet bei. Er arbeitet zwar genau so hart an sich wie seine Jumbo-Visma-Teamkollegen Primoz Roglic (33, Slo) und Jonas Vingegaard (26, Dä), scheut aber den Druck, täglich liefern zu müssen. Dieser Fokus brauche eine Extraportion Energie, die nicht jeder habe, erklärte Kuss einmal. Er hätte auch sagen können: «Ich habe sie nicht.» Dabei ist Kuss der einzige Fahrer, der in diesem Jahr alle Grand Tours (Giro, Tour und Vuelta) bestritt.
Kuss etwas beschwipst
Nun hat der Wind gedreht. Kuss, dessen Urgrosseltern einst aus Slowenien in die USA auswanderten, führt die Vuelta an. Noch macht er sich keinen Kopf daraus. Zuletzt gönnte er sich auf dem Podest einige kräftige Cava-Schlücke. Er habe den Schaumwein sehr genossen, «auch wenn ich danach ziemlich betrunken war», verriet Kuss lachend.
Sicher ist: Die Entscheidung, als Jugendlicher auf die Karte Radsport zu setzen, hat sich für Kuss, der mit seiner Freundin Noemi Ferré in Andorra lebt, gelohnt. Dabei war er eigentlich für den Langlaufsport vorbestimmt – Vater Dolph war bei Olympia 1964 und 1972 ein Teil des US-Trainerteams und Mutter Sabina war Profi.
Bissegger: «Es ist zu früh»
Noch gilt Kuss trotz seiner Führung als Vuelta-Aussenseiter. «Ich würde das Maillot Rojo gerne behalten», sagt er. Um gleich anzufügen: «Es wird kompliziert.» Der Grund: Seine Schwäche im Zeitfahren. Am Dienstag geht es im Kampf gegen die Uhr über 25,8 flache Kilometer. Der Thurgauer Stefan Bissegger (24) will dann brillieren. Zu Kuss meint er: «Vielleicht schafft er es, die Rundfahrt zu gewinnen. Noch ist es zu früh, um das zu sagen.»