Es wäre so schön gewesen. Wäre. Zumindest ist es so aber nicht kitschig. An ihrem 30. Geburtstag verpasst Marlen Reusser im WM-Zeitfahren die Goldmedaille um zehn Sekunden. Sie holt Silber. «Ganz ehrlich, das ist etwas enttäuschend. Dafür bin ich nicht gestartet», sagt die Bernerin nach dem Rennen mit zittriger Stimme. Man merkt: Reusser hatte sich ihren Geburtstag ganz anders vorgestellt.
Vor dem Start machte Reusser klar: «Ich will Weltmeisterin werden. Ich möchte es einfach schaffen. Es wäre doch doof zu sagen, dass ich mal schaue, was passiert.» Reussers Zuversicht war begründet. In Tokio wurde sie Olympia-Zweite, danach triumphierte sie bei der EM. Ihre Rückenprobleme hat sie im Griff, die 30,3 Kilometern von Knokke-Heist nach Brügge waren genau nach ihrem Gusto – flach. Aber eben: Am Ende ist die Holländerin Ellen van Dijk (34) einen Tick besser. «Sie freut sich so über Gold. Das macht es etwas erträglicher», sagt Reusser.
Bestzeit, Bestzeit und Rang 2
Den Frust verbergen kann Reusser nach der Ankunft nicht. Kein Wunder. Sie startet furios ins Rennen, ist bei der ersten Zwischenzeit die Schnellste. Und auch noch bei der Zweiten. Doch dann, auf den letzten zehn Kilometern, ist die eine Stunde vor ihr gestarteten Van Dijk deutlich besser.
«Eigentlich dachte ich nach der Zieleinfahrt, ich hätte gewonnen. Hinten im Auto haben sie wohl versucht, mich zu motivieren – sie sagten, ich würde vorne liegen. Dann, als ich auf dem Boden sass, erfuhr ich, dass ich Zweite bin. Da war ich etwas geschockt. Es war mega bitter.»
«Ich fuhr fast blind»
Mit dem Schicksal hadert Reusser nicht. «Ich habe mir das Rennen gut eingeteilt, alles hat funktioniert. Klar, man könnte die zehn Sekunden Rückstand überall suchen. Mein Visier war in der zweiten Hälfte des Rennens komplett beschlagen. Und weil ich es so gut befestigt hatte, konnte ich es nicht wegreissen. Ich fuhr fast blind, in den Kurven war das ein Problem. Aber letztlich hat Ellen den Sieg einfach verdient.»
Mit etwas Abstand dürfte sich Reusser dennoch über ihre Silbermedaille freuen. Für eine Quereinsteigerin – Reusser löste ihre erste Rad-Lizenz erst vor vier Jahren, ist das ein kometenhafter Aufstieg. Welche sind die Gründe dafür? Klar, Reusser ist talentiert. Doch das ist nicht alles. Die Frau, die einst Präsidentin der Jungen Grünen im Kanton Bern war, ist auch eine akribische Arbeiterin. Ihr Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft.
Was das heisst? Einfach: Die Gegnerinnen müssen sie auch künftig auf der Rechnung haben. Vielleicht sogar mehr denn je.