Am 20. September feiert Marlen Reusser ihren 30. Geburtstag. Das schönste Geschenk macht sie sich bereits in Tokio. Silber im Zeitfahren! «Ich war kurz zu Tränen gerührt, als ich an all die Leute denken musste, die mein Ego-Projekt unterstützen», sagt sie kurz darauf.
Was die Bernerin meint? Klar, ihr totaler Fokus in dieser Saison auf die Olympischen Spiele. Vielleicht denkt sie aber auch an ihre gesamte Rad-Karriere. Diese startete sie – man mag es kaum glauben – erst vor vier Jahren. Dabei gab sie ihren Beruf als chirurgische Assistenzärztin auf. «Wäre ich bei meinem ursprünglichen Beruf geblieben, hätte ich jetzt massiv mehr Geld auf dem Konto», sagt Reusser. Tatsächlich fuhr sie bis letztes Jahr noch für etwa 3500 Franken Lohn pro Monat.
Und heute? Genau, da ist sie auf dem Höhepunkt ihrer noch jungen Karriere. Nati-Trainer Eddy Telser: «Marlen ist eine Quereinsteigerin, sie musste von A bis Z fast alles lernen. Oft muss man ihr helfen, manchmal auch einbremsen. Aber Freude macht es mit ihr immer.»
Das gilt auch diesmal, als Reusser ankündigt: «Diese Silbermedaille schenke ich Eddy!» Wie bitte? Telser winkt ab: «Das ist crazy, so wie Marlen. Es ist ihre Medaille, sie soll sie ruhig behalten – ich werde sie auf keinen Fall annehmen.»
Geigerin, Politikerin, Rad-Liebhaberin
Es fällt auf: Reusser trägt ihre Emotionen auf der Zunge, ihre Begeisterung und Offenheit wirken ansteckend. Dabei war es schon früh klar, dass sie nicht das einfache, geregelte Leben suchte. Beispiele gefällig? Reusser war in jungen Jahren eine sehr talentierte Geigenspielerin, lernte an der Hochschule der Künste. Dann folgte der Wechsel in den Kittel – sie studierte Medizin, wurde Ärztin.
Das ist längst nicht alles. Reusser politisierte als Kantonalpräsidentin der jungen Grünen, versuchte sich beim Wasserball und Schwimmen. Und auch in der Leichtathletik. Das Problem dabei: Bei Reusser ist in beiden Füssen das untere Sprunggelenk deformiert – eine Laufbahn als Läuferin wäre unmöglich gewesen. Auch darum entdeckte Reusser den Radsport für sich. Es lohnte sich.
Ihr Freund war Flüchtling
Übrigens: Reusser war bis letztes Jahr die Freundin von Baddredin Wais, einem Flüchtling aus Syrien. Er ist ebenfalls Radfahrer, startete in Tokio kurz nach Reusser zum Zeitfahren, hatte aber nichts mit der Medaillenentscheidung zu tun.
Was bleibt? Die Erkenntnis, dass Reusser nicht nur ein Multitalent ist, sondern auch über den Rad-Tellerrand hinausschaut.