Der Besucher hört Vogelstimmen, als Meta Antenen (75) die Tür öffnet. «Es ist nur die Zwitscherbox», begrüsst die frühere Schweizer Fünfkampf- und Weitsprung-Meisterin ihren Gast mit einem herzhaften Lachen. «Kommen Sie herein! Die echten Vögel singen im Garten.» Die Schaffhauserin wohnt mit ihrem Partner René Meier (81) in Walchwil ZG. Die Terrassenwohnung mit heimischer Lärchenfassade thront hoch über dem Zugersee, der Blick auf die Rigi und den Pilatus raubt einem fast den Atem. «Seit 25 Jahren lebe ich hier im Paradies», sagt die Hausherrin.
Meta Antenen tigert im Garten herum: «Ich bin etwas aufgeregt, denn ich brauche stets ein wenig Überwindung, um Interviewanfragen anzunehmen. Aber es passt schon. Ich habe ja Erfahrung damit: Immer, wenn ich im Sport vor einem Wettkampf nervös war oder gar Angst hatte, habe ich abgeliefert.»
Weltrekord im Fünfkampf
Am 7. Juli 1969 schreibt Meta Antenen Sportgeschichte. Anlässlich der Schweizer Fünfkampf-Meisterschaften in Liestal BL verbessert sie den Weltrekord von Heide Rosendahl (D) um 23 Punkte. Es ist bis dato der dritte und letzte Schweizer Freiluft-Weltrekord. «Es tschuderet mi no hüt», erzählt sie, wenn sie an die zwei denkwürdigen Tage zurückdenke.
«Mein Bruder hörte am ersten Tag im Radio, dass ich auf Weltrekordkurs bin. Tags darauf hat er mit seiner kleinen Tochter im Ziel auf mich gewartet und mich in die Arme genommen.» Meta Antenen absolviert den Fünfteiler mit folgenden Leistungen: 13,5 Sekunden über 100 m Hürden, 11,28 Meter im Kugelstossen, 1,71 Meter im Hochsprung, 6,49 Meter im Weitsprung und 24,6 Sekunden über 200 Meter.
Eine ganz besondere Medaille
Auch am 14. August 1971 liefert Meta Antenen ab. An der Leichtathletik-EM in Helsinki macht sie sich mit einer heute undenkbaren Fairness-Geste im Olympiastadion unsterblich. Punkt 18 Uhr taucht ihr Name auf der elektronischen Anzeigetafel auf. Die 22 Jahre alte Ausnahmeathletin des LC Schaffhausen muss die Weitsprung-Konkurrenz eröffnen. «Noch als ich am Start der Anlaufbahn stand, glaubte ich, Gummiknie zu haben», erzählt sie bald 53 Jahre nach dem Wettkampf.
Meta Antenen geht mit einem Riesensatz und Schweizer Rekord (6,73 Meter) in Führung. Auch nach vier von sechs Versuchen liegt die berufstätige Elektrozeichnerin vorne. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ingrid Mickler-Becker, Antenens grösste Rivalin, verlässt die Weitsprung-Anlage und eilt quer über den Platz zur deutschen 4×100-m-Staffel, bei der sie als Schlussläuferin eingesetzt wird. Meta Antenen spricht sich beim Kampfgericht dafür aus, dass ihre deutsche Widersacherin ihren verpassten fünften Sprung nachträglich ausführen darf. Mehr noch: Die Weitsprung-Führende rennt zu Ingrid Mickler-Becker und bringt ihr den liegengelassenen Trainingsanzug, damit sie vor ihren beiden letzten Weitsprung-Versuchen eine kleine Verschnaufpause einlegen kann.
Der Rest ist Geschichte: Nach einem Nuller springt Mickler-Becker perfekt – auf der Leuchttafel erscheint die Zahl 6,76 m. Antenen ist die Erste, die der neuen Europameisterin gratuliert. Für diese selbstlose Geste erhält sie als erste Schweizer Sportlerin die nach Pierre de Coubertin, dem Erfinder der modernen Olympischen Spiele, benannte Fairplay-Medaille der Unesco. «Ist sie nicht schön?», fragt Antenen und zeigt sie dem Gast. «Mieux qu’une victoire» ist auf der Plakette eingraviert – mehr als ein Sieg. Die Medaille passt wunderbar zum bescheidenen und hilfsbereiten Charakter der Besitzerin. «Die EM-Silbermedaille bedeutet mir aber auch sehr viel.» Sie ist eine von insgesamt neun Auszeichnungen an kontinentalen Titelkämpfen.
Auch der Verband Deutscher Sportpresse ist angetan von Meta Antenens vorbildlichem Verhalten und verleiht ihr 1971 die von Box-Weltmeister Max Schmeling gestiftete Fair-Play-Trophäe. Zum ersten Mal geht diese Auszeichnung ins Ausland und zum ersten Mal an eine Frau.
Der Sinn des Lebens
Meta Antenen blickt erst auf die Seerosen im Biotop, dann dreht sie den Kopf zur steinernen Buddha-Statue und fragt: «Spüren Sie die Energie?» Der Garten sei ihr Kraftort, hier geniesse sie die Natur, die Stille und den Frieden. Hier denke sie über das Leben nach. «Jeder Mensch, aber auch jede Blume und jedes Tier sind ein Wunderwerk. Sie sollte man nicht in Kategorien einteilen. Leben und leben lassen, lautet mein Credo», sagt Antenen. Um anzufügen: «Die Welt ist doch wunderbar – es macht mich traurig, wenn ich sehe, wie wir sie gerade zerstören.»
Meta Antenen befasst sich auch gerne mit Numerologie, also mit Zahlen, die spirituelle Energie verleihen. Einmal pro Woche hält sich die Mutter von Simon (44) und Nina (42) mit Tennisspielen fit. Der Vater ihrer Kinder, Ex-Mann Beat Mathys, ist vor zehn Jahren verstorben.
Während den Olympischen Spielen in Paris werde sie mit dem Schweizer Team vor dem Fernseher lautstark mitfiebern. Etwas Schöneres und Ergreifenderes als die Eröffnungsfeier gebe es nicht, sagt die zweifache Schweizer Sportlerin des Jahres 1966 und 1971: «Ich weiss noch genau, wie ich in Mexiko 1968 als jüngste Schweizer Athletin und schwer verliebt in meinen Teamkollegen Thomas Wieser, einen Hochspringer, ins Olympiastadion lief und hoch oben auf der Tribüne ein weisses Transparent entdeckte. Darauf stand: Hopp Meta!»
Drei Schweizer Freiluft-Weltrekorde
In der Leichtathletik hat es bisher drei Schweizer Freiluft-Weltrekorde gegeben, einer davon jener von Meta Antenen im Fünfkampf. Hans Pfäffli (80), Historiker von Swiss Athletics, ruft die zwei weiteren für uns in Erinnerung: Hochspringerin Ilsebill Pfenning überquert am 27. Juli 1941 in Lugano die 1,66 Meter hoch liegende Latte. Damit egalisiert sie den Weltrekord, der erst 1976 offiziell bestätigt wird, nachdem die Schweiz das entsprechende Protokoll nachgeliefert hat.
Hintergrund: 1938 springt die deutsche Leichtathletin Dora Ratjen 1,70 Meter hoch; dieser Rekord wird nachträglich aberkannt, weil sich herausgestellt hat, dass die Weltrekordhalterin in der Zwischenzeit in Heinrich Ratjen umgetauft wurde. Dora Ratjen werden sämtliche Medaillen und Rekorde abgesprochen. Hürdenläufer Josef Imbach aus Genf erreicht an den Olympischen Spielen in Paris am 10. Juli 1924 im Viertelfinal des 400-Meter-Laufs nach 48,0 Sekunden das Ziel – Weltrekord! Tags darauf lösen erst Horatio May Fitch (USA/47,8) und später Olympiasieger Eric Henry Liddell (GBR/47,6) Imbach als Weltrekordhalter ab.