Machtkampf bedroht Existenz
Der Schweizer Boxsport kämpft ums Überleben

Die Diskussionen in Paris um das Geschlecht der beiden Olympiasiegerinnen Imane Khelif und Lin Yu Ting sind bloss Vorwand für einen hässlichen Machtkampf im Boxsport, der massgeblich auch die Schweiz betrifft.
Publiziert: 13.08.2024 um 11:21 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2024 um 09:28 Uhr
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Die Genderdebatte um Boxerin Imane Khelif ist ein Resultat eines Machtkampfs zwischen IOC und der IBA.
Foto: imago/ZUMA Press
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Patrick MäderAutor Blick Sport

Im Boxsport ist der Teufel los. Um das zu verstehen, braucht es den Blick zurück. Ursprung der Krise ist ein riesiger Skandal. 2016 in Rio flog auf, dass die IBA (damals AIBA), der internationale Verband, der die Boxturniere bei Olympia organisierte, viele Kämpfe verschoben hat. Ein Untersuchungsbericht des Sportrechtlers Richard McLaren listete die Manipulationen auf und kam zum Schluss: «Entscheidende Personen hatten beschlossen, dass Regeln für sie nicht gelten. Es herrschte eine Atmosphäre der Angst, der Einschüchterung und des Gehorsams bei Ring- und Punktrichtern.»

Korruption, verkaufte Kämpfe, bestochene Kampfrichter, ein wüstes Schlamassel, das die Glaubwürdigkeit dieser Sportart im Ringboden versenkte. Das IOC entzog der IBA danach die Olympiaberechtigung und hat nun zweimal, 2021 in Tokio und soeben in Paris, eine eigene Taskforce eingesetzt, um das Turnier ohne die IBA durchzuführen. Ein weiteres Mal, das steht fest, wird das IOC nicht mehr selber Hand anlegen. Boxen ist in Paris zum letzten Mal olympisch, ausser es findet sich ein anderer Weltverband, der die Kriterien erfüllt, um das Turnier 2028 in Los Angeles durchzuführen.

Umstrittene Preisgelder für Olympiasieger

Die IBA unter der Führung von Putin-Kumpel Umar Nasarowitsch Kremlew (41), finanziert von Gazprom, akzeptiert den Rausschmiss bis heute nicht. Beim Sportgerichtshof CAS ist sie mit ihrer Beschwerde abgeblitzt und hat danach das Bundesgericht angerufen. Doch das Tischtuch mit IOC-Präsident Thomas Bach (70) ist unrettbar zerschnitten. In diesem Zusammenhang muss man Bachs kürzlichen Auftritt bewerten, als er nach dem Eklat um die algerische Boxerin Imane Khelif (25) höchstpersönlich vor die Medien trat und den Entscheid verteidigte, Khelif in Paris kämpfen zu lassen. Den Namen Kremlew erwähnte er dabei nicht. Aber er kritisierte das Gebaren der IBA scharf. Denn schon vor dem Turnier haben die IBA-Leute angekündigt, den Olympiasiegern hohe Preisgelder zu bezahlen.

Erstens aber entspricht das nicht dem olympischen Gedanken, und zweitens hat die IBA gar nichts mehr mit dem Boxturnier bei Olympia zu tun. Also ist es reine Propaganda, die darin gipfelt, dass die IBA der gegen Khelif unterlegenen Italienerin Angela Carini (25) ein Schmerzensgeld von 100'000 Euro in Aussicht stellte. Ob diese Versprechungen und Ankündigungen jemals eingelöst werden, ist zumindest fraglich. Aber Geld genug wäre da, dafür sorgt Gazprom. Das IOC wehrt sich gegen die Einmischung der IBA längst auf juristischem Weg. Ausgang ungewiss.

Dass es ausgerechnet eine Italienerin traf, die weltweit für Schlagzeilen sorgte, kommt Kremlew sehr gelegen. Italien hat die IBA vor wenigen Wochen verlassen und sich dem im letzten November neu gegründeten Verband World Boxing (WB) angeschlossen. Ein Entscheid mit Signalwirkung. Die Franzosen werden sich wohl bald anschliessen, andere Verbände auch. Das will die IBA mit allen Mitteln verhindern, um ihre Macht nicht zu verlieren, und heuchelt jetzt das Blaue vom Himmel. «Ich konnte mir Carinis Tränen nicht ansehen», säuselte Kremlew. «So etwas lässt mich nicht gleichgültig.»

Olympia in den USA ohne Boxen? Undenkbar

Die neu gegründete WB hat momentan 37 Mitglieder. Zugpferd sind die USA, die grösstes Interesse daran haben, dass die Publikumssportart Boxen 2028 im eigenen Land olympisch sein wird, sind doch die USA in dieser Sportart Rekordmedaillengewinner. Doch die WB braucht in erster Linie viel mehr Mitglieder, um die Kriterien des IOC zu erfüllen, 2028 die olympische Verantwortung zu bekommen.

Diese 37 Verbände sind bereits bei World Boxing

Europa (13): Dänemark, Deutschland, England, Finnland, Grossbritannien, Island, Niederlande, Norwegen, Schottland, Schweden, Tschechien, Wales, Italien.
Amerika (14): Argentinien, Brasilien, Honduras, Jamaika, Kanada, Amerikanische Jungferninseln, Panama, Suriname, USA, Barbados, Dominica, Peru, Cayman Islands, Bahamas
Ozeanien (4): Australien, Französisch-Polynesien, Neuseeland, Tuvalu
Asien (5): Mongolei, Philippinen, Indien, Singapur, Südkorea
Afrika (1): Nigeria

Europa (13): Dänemark, Deutschland, England, Finnland, Grossbritannien, Island, Niederlande, Norwegen, Schottland, Schweden, Tschechien, Wales, Italien.
Amerika (14): Argentinien, Brasilien, Honduras, Jamaika, Kanada, Amerikanische Jungferninseln, Panama, Suriname, USA, Barbados, Dominica, Peru, Cayman Islands, Bahamas
Ozeanien (4): Australien, Französisch-Polynesien, Neuseeland, Tuvalu
Asien (5): Mongolei, Philippinen, Indien, Singapur, Südkorea
Afrika (1): Nigeria

Das Geld, um Mitglieder zu kaufen, hat der neue Verband nicht. Im Gegensatz zur IBA, die längst, ähnlich wie die Fifa im Fussball, ein sogenanntes Entwicklungsprogramm auf die Beine gestellt hat. Vordergründig, um ärmere Länder in der Entwicklung des Boxsports zu unterstützen. Hintergründig, um sich so ganz nebenbei ihre Treue zu sichern. Zudem bezahlt die IBA bei den von ihnen organisierten Wettkämpfen neuerdings Preisgelder in sechsstelliger Höhe.

Schweizer Boxsport im Dilemma

Doch auch das IOC macht Druck auf die nationalen Verbände. Es streicht den IBA-Treuen Gelder und Zugangsmöglichkeiten. Die nationalen olympischen Verbände geben den Druck weiter. Und genau hier setzt das Dilemma des Schweizer Boxsports an – das Geld-Dilemma. Der Bund hat eine Leistungsvereinbarung mit Swiss Olympic, dem Dachverband der Schweizer Sportverbände. Swiss Olympic erhält vom Bund jährlich Unterstützungsgelder, wovon ein Teil in die zweckgebundene Spitzensportförderung der nationalen Verbände fliesst. Wer wie viel erhält, ist leistungsabhängig. Die Ziele werden jeweils in Vierjahreszyklen vereinbart und gelten rückwirkend. Darum sind Ergebnisse an Grossanlässen wie EM, WM oder bei Olympia besonders wichtig für die einzelnen Verbände. Jeder gute Rang bringt Punkte im Finanzranking und bedeutet schliesslich bare Münze.

Vor einem Jahr hat es an der Delegiertenversammlung von Swiss Boxing geknallt. Der Verbandsrat um Präsident Andreas Anderegg (67) hatte in Eigenregie beschlossen, die IBA zu verlassen. Anderegg war nicht einverstanden mit den Machenschaften der IBA. «Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.» Doch dieser Entscheid war nicht verfassungskonform, da so etwas Grundsätzliches nur die Mehrheit der Delegierten beschliessen kann. Die Delegierten, wohl pikiert über den Alleingang des Verbandsrates, stimmten trotzig gegen den Austritt und für einen Verbleib in der IBA, worauf Anderegg sein Amt auf der Stelle zur Verfügung stellte und entnervt zurücktrat. Mit ihm gingen weitere vier Amtsträger.

Neuer Präsident ist ein IBA-Mann

Im allgemeinen Durcheinander stand einer auf, der den Delegierten einen Weg aus dem Chaos schmackhaft machte: Amir Orfia, Jahrgang 1994, ein smarter Ex-Boxer aus Lausanne und Projektleiter bei der IBA. Er versprach, neue Sponsorengelder zu finden, was die verunsicherten Delegierten in diesem Moment gerade gern hörten. Orfia wurde gewählt, betonte, dass er sein Amt bei der IBA abgeben würde, damit keine Interessenkonflikte entstehen. Die Lage beruhigte sich.

Auch, weil es zu diesem Zeitpunkt gute Gründe für einen Verbleib in der IBA gab, die EM, WM sowie alle wichtigen Turniere organisiert. Swiss Boxing brauchte Resultate, um im neuen Zirkel nicht in eine tiefere Förderungsklasse zu fallen, also weniger Geld zu bekommen. Hätten die Delegierten vor einem Jahr den Austritt beschlossen, wären die Türen zu den wichtigen IBA-Wettkämpfen zugegangen, das Erreichen der benötigten Punkte unmöglich geworden. Das hätte ab Januar 2025 schmerzhafte finanzielle Einbussen für Swiss Boxing zur Folge gehabt.

Kommt es Ende August zum nächsten Eklat?

Bei der Einteilung der nationalen Verbände in die Förderklassen gibt es nun erstmals neue Kriterien, die beurteilt und einbezogen werden. Diese betreffen unter anderem die Einhaltung ethischer Grundsätze. Also werden genau die Punkte bewertet, die man der IBA als Verfehlungen vorwirft. Im Klartext: Bleibt Swiss Boxing bei der IBA, sieht es mit den Unterstützungsgeldern des Bundes im nächsten Vierjahreszirkel zappenduster aus.

Diese Gefahr schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Schweizer Boxsport. Die Zeit drängt. Darum hat ein Teil der Verantwortlichen einen Aufstand losgetreten. Die Mehrheit des Verbandsrates hat gegen die Stimme von Präsident Orfia die Einberufung einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung auf den kommenden 31. August durchgesetzt. Dort soll nun endgültig der Ausstieg aus der IBA beschlossen werden, wohl gekoppelt an ein Antragsgesuch zur Mitgliedschaft beim Verband WB.

Das letzte Wort haben die Delegierten. Durchaus denkbar, dass es dann zum nächsten Eklat kommen wird, zum nächsten Rücktritt eines Präsidenten, zu einer Spaltung in zwei Lager. Die Ausgangslage ist offen und spannend wie ein Krimi. Klar ist: Die Existenz des Schweizer Boxsports steht auf dem Prüfstand. Dieser Abend Ende August in Glattbrugg ZH wird so oder so ein denkwürdiger und wegweisender.

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