Experte erklärt Gender-Streit
«… dann sind zweifellos Vorteile vorhanden»

Die möglicherweise intersexuellen Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu-ting finden sich bei ihren Olympia-Auftritten in einem Hurrikan der Aufregung wieder. Wissenschaftler Tommy Lundberg sagt, ob die beiden wirklich einen unfairen Vorteil haben könnten.
Publiziert: 07.08.2024 um 11:02 Uhr
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Die taiwanesische Boxerin Lin Yu‑ting darf trotz Kontroverse in Paris antreten.
Foto: keystone-sda.ch
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Emanuel GisiSportchef

Sie schreibt unfreiwillig eine der grossen Geschichten dieser Sommerspiele: Die algerische Boxerin Imane Khelif (25) kämpft am Freitag um Olympiagold im Weltergewicht. Seit ihrem ersten Kampf bei diesen Spielen ist sie wie die Taiwanesin Lin Yu-ting (28) in den Schlagzeilen, weil sie als möglicherweise intersexuelle Athletin gegenüber ihrer Konkurrenz in der Frauenkategorie einen unfairen Vorteil haben könnte. Der Physiologe Tommy Lundberg vom renommierten Karolinska-Institut in Stockholm (Sd) erklärt, wo das Problem liegt – und welche Lösung er sieht. 

Blick: Tommy Lundberg, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder von Imane Khelif und Lin Yu-ting sehen, die in Paris derart in den Fokus geraten sind?
Lundberg: Dass ihre Berechtigung für die olympischen Wettkämpfe während der Spiele plötzlich infrage gestellt wird, ist schlimm. Es ist falsch, dass sie in diese Situation geraten sind.

Wie konnte das passieren?
Das IOC hat es verpasst, rechtzeitig angemessene Zulassungskriterien für die Boxwettkämpfe zu schaffen. Man kann sich darüber streiten, wie diese genau aussehen sollten. Aber dass ein Eintrag im Reisepass als Zulassungskriterium nicht ausreicht, sollte nicht umstritten sein. Vor allem nicht beim Boxen, wo es nicht nur die Frage der Fairness, sondern auch der Sicherheit gibt.

Manche Boxerinnen sagen: Beim Boxen wird man halt manchmal hart getroffen. Das tut dann weh. Wo ist das Problem?
Die durchschnittlichen Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen sind in den meisten Sportarten so gross, dass es eine eigene Frauenkategorie braucht. Beim Boxen, wo es vor allem auf Körperbau und Kraft ankommt, akzentuiert sich das noch einmal zusätzlich. Wenn jemand also mit den körperlichen Vorteilen, die das Durchleben einer männlichen Pubertät mit sich bringt, gegen eine biologische Frau antritt, ist das mit körperlichen Unterschieden zwischen Mann und Mann und Frau und Frau nicht zu vergleichen.

Die Fälle Khelif und Yu-ting sind insofern kompliziert, weil weder das IOC noch der Boxverband IBA Genaueres über die beiden Athletinnen kommunizieren.
Das ist eines der Probleme. Die IBA sagt, dass diese beiden Athletinnen nicht nur den Geschlechtstest nicht bestanden haben, sondern auch, dass sie einen Leistungsvorteil haben. Die Aussagen von IOC-Präsident Thomas Bach lassen darauf schliessen, dass es sich um Fälle von DSD-Athletinnen (DSD: «Disorders of Sex Development», dt.: Varianten der Geschlechtsentwicklung, d. Red.) handelt. Aber das ist nicht zu 100 Prozent gesichert.

Lässt sich quantifizieren, wie gross der Vorteil einer DSD-Athletin sein könnte?
Die bei DSD-Athletinnen vorhandenen XY-Chromosomen bedeuten nicht zu 100 Prozent, dass sie einen körperlichen Vorteil haben, wie ihn ein Mann gegenüber einer Frau hat. Es braucht weitere Tests. Denn es gibt einige sehr seltene DSD-Fälle, die nicht mit einem männlichen Leistungsvorteil verbunden sind. Wenn es sich aber zum Beispiel um einen 5-ARD-Fall handelt, wie es bei einigen der bekannten Fälle in der Leichtathletik, etwa bei Caster Semenya, der Fall war, dann sind zweifellos männliche Leistungsvorteile vorhanden. Durch erhöhte Testosteronwerte legen sie viel stärker an Kraft und Ausdauer zu – vergleichbar mit Männern.

Nun könnte man aber auch sagen: Über-Schwimmer Michael Phelps hat auch lange Arme, einen langen Oberkörper und grosse Füsse. Es gibt im Sport immer unterschiedliche Voraussetzungen.
Das ist kein stichhaltiges Argument, sondern eines der häufigsten Missverständnisse bei der Kategorisierung von Sportarten. Die typischen Vor- und Nachteile bei Körperbau, Muskeln oder schnell zuckenden Muskelfasern, sind Teil des Wettbewerbs und bewegen sich innerhalb eines bestimmten Leistungsbereichs. Darum lassen wir Männer nicht gegen Frauen antreten und 16-Jährige nicht gegen 10-Jährige. Weil diese Wettbewerbsvorteile nicht mit Vorteilen vermischt werden sollen, die nichts mit Talent und Können zu tun haben.

Aber im Boxen gibt es ja nicht nur Geschlechterkategorien, sondern auch Gewichtsklassen. Hilft das nicht?
Nein. Wir wissen, dass es beim Gewichtheben zwischen Männern und Frauen einen 30-prozentigen Unterschied in der Kraft gibt, wenn Faktoren wie Grösse und Gewicht gleich sind. In Bezug auf die Schlagkraft dürfte der Unterschied noch grösser sein.

Wie lässt sich das Problem lösen?
Wie gesagt: Das IOC, oder wer auch immer in Zukunft die Boxwettkämpfe bei Olympia organisiert, ist gefordert. Man sollte rechtzeitig Tests durchführen, um allfällige Auffälligkeiten feststellen zu können und dann rechtzeitige Abklärungen durchführen. Damit es nicht wieder ein solch unwürdiges Schauspiel gibt.

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