Das Olympia-Märchen von Julie Derron (27) begann 2021, als die Zürcherin nicht für Olympia in Tokio selektioniert wurde, obwohl sie darauf gehofft hatte. «Danach war ich extrem enttäuscht. Ich habe gehadert und mir geschworen, dass mir das in Paris nicht mehr passieren wird.» Genau vor einem Jahr, bei der Olympia-Hauptprobe auf der Originalstrecke, schaffte sie dann tatsächlich die ersehnte Limite. Doch musste bis im Frühjahr 2024 warten, bis sie von Swiss Olympic auch tatsächlich selektioniert wurde.
Zu diesem Zeitpunkt weilte sie im Trainingslager in China mit ihrem Trainer Brett Sutton, der dort Nationaltrainer ist. Bekannt als knallharter Coach, der die Grenzen seiner Schützlinge zu verschieben weiss. Der Nicola Spirig zur Olympiasiegerin und Daniela Ryf zur Ironman-Legende geformt hatte. Vier Monate ackerte der 65-Jährige mit Julie Derron, schuftete und feilte auch an den kleinsten Details. Viel Wert legten die beiden auf das Schwimmen, nicht Julies Lieblingsdisziplin. Sie wusste, das Schwimmen könnte vorentscheidend sein, in welche Richtung es im Olympiarennen geht.
Auf vier Uhr hatte sie am Mittwochmorgen den Wecker im Olympischen Dorf gestellt. Sich als Erstes vergewissert, ob das Rennen tatsächlich stattfinden wird. Dann war sie hellwach, spürte, dass heute ihr grosser Tag werden könnte. Sie ass einen Teller Reis mit Honig, bereitete sich vor wie immer. Dass es frühmorgens draussen regnete, störte sie nicht, sollte aber das Rennen noch beeinflussen.
Spirig hatte den richtigen Riecher
Im Wasser ging es zuerst flussaufwärts. Derron fühlte sich gut, das Training hat sich ausbezahlt. Die verschmutzte Seine? «War in diesem Moment überhaupt kein Thema», sagte sie nach dem Rennen. «Ich habe mich nur auf den nächsten Zug konzentriert. Alles andere ausgeblendet.»
Derron galt im Vorfeld maximal zum erweiterten Favoritenkreis, aber die Schweizer Triathlon-Königin Nicola Spirig sagte bereits voraus, dass, wenn das Rennen optimal für sie laufe, die Zürcherin eine Medaille gewinnen werde. Sie wollte nicht so zitiert werden, hat die Aussage nachträglich etwas abgeschwächt, um nicht zusätzlichen Druck auf Derron auszuüben.
Aber von Druck schien die 27-Jährige überhaupt nichts zu spüren. Nach Plan hat sie beim ersten Wechsel gerade noch knapp den Anschluss an die Spitzengruppe geschafft, zu der sie auf dem Velo schnell aufschliessen konnte. Inzwischen schien die Sonne über dem Himmel von Paris, doch die Strecke war nass und gefährlich rutschig. Reihenweise fielen die Athletinnen um. «Es war schwierig, aber ich habe ganz auf meine technischen Fähigkeiten vertraut», sagte Derron, die sich immer zeigte, das Feld oft anführte und stets heil um die Kurven kam.
Als sie nach der ersten Laufrunde immer noch in Führung lag, da war für Spirig auf der Tribüne klar: «Wenn sie läuferisch so stark ist, dann wird sie das packen.» Doch für Derron wars noch ein langer Weg. Die Führungsgruppe wurde kleiner und kleiner, bis nur noch vier Athletinnen übrig blieben. Eine von ihnen wird keine Medaille machen, das war in diesem Moment allen klar. Doch Julie war mental ganz stark: «Ich habe mir gesagt, dass ich nicht diejenige bin, die keine Medaille gewinnt.» Sie habe gewartet, bis eine der Konkurrentinnen angreifen würde, wollte eigentlich gar nicht so viel Führungsarbeit machen. Als die letzte Runde eingeläutet wurde, da gab ihr der Trainer von aussen ein Zeichen. Jetzt musst du attackieren.
Gänsehaut bei Nicola Spirig
Sie verschärfte das Tempo, aber gegen den Antritt von Cassandre Beaugrand hatte sie keine Chance. Auch Beth Potter nicht, die Britin, die Gold anvisierte und Bronze gewann. Sie sagte nach dem Rennen über Derron: «Ich war nicht überrascht, ich wusste, dass sie auf dem Rad sehr stark ist. Am Ende war sie standhafter als ich, das ist Sport. Ich hatte Gold im Kopf und nehme jetzt, was ich habe.»
Als die Schweizerin als ungefährdete Zweite auf die Zielgerade bog, da bekam Spirig Gänsehaut. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie erinnerte sich da vielleicht daran, wie sie selber 2012 auf der Zielgeraden das Letzte aus sich herausholte, die Schwedin Lisa Nordén schliesslich in einem Fotofinish besiegen und Olympiagold gewinnen konnte.
Derron riss auf der Ziellinie die Arme hoch, plötzlich fiel alles von ihr ab und machte Platz für tiefste Emotionen. Sie liess sich auf den Boden sinken und den Gefühlen freien Lauf. «Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Ich bin sehr glücklich. Das war mein perfektes Rennen», sagte sie mit Tränen in den Augen. Sie habe vor ein paar Wochen plötzlich gemerkt, dass da was zu holen sei. Es war eine Eingebung, vielleicht das Resultat des harten Trainings in China, das auch eine Mentalschulung war. Derron glaubte an sich, ist in der Form des Lebens nach Paris gereist und hat die Gunst der Stunde genutzt.
Schär weinte bittere Tränen
Derron weinte vor ausgelassener Freude, Cathia Schär, die zweite Schweizerin am Start, weinte untröstlich vor Enttäuschung über ihren 43. Schlussrang. «Ich bin traurig, weil ich einfach nicht zeigen konnte, was ich wollte. Das macht das Ganze sehr hart», schluchzte die 22-Jährige. Für einen Moment lagen sich die beiden Schweizerinnen im Zielraum in den Armen. Unterschiedlicher hätte die Gefühlslage der beiden nicht sein können.
Die Silbermedaille widmet Julie Derron ihrer Familie, die vor Ort mitgefiebert hat. Und heute kann sie auch sagen: «Ich war damals nicht gut genug, um in Tokio teilzunehmen, damals platzte der Kindheitstraum, einmal bei Olympia dabei zu sein. Nun hat er sich doch noch erfüllt, und das macht mich stolz.» Nun gehört Julie Derron zu den ganz Grossen dieses Sports. Ob sich jetzt etwas ändern wird in ihrem Leben? «Das muss ich zuerst Nicola Spirig fragen», sagt Derron lachend. «Sie weiss, was jetzt auf mich zukommt.»