Freestyle-Star Eileen Gu wirbt für China und USA
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Olympiasiegerin und Reizfigur:Freestyle-Star Eileen Gu wirbt für China und USA

Vom Kinderheim zum Goldtrainer
Schweizer schreibt Olympia-Märchen mit China-Superstar

Ski-Freestylerin Eileen Gu (18) schwebt nach ihrer Goldjagd in einer neuen Galaxie. Den letzten Kick zum kometenhaften Aufstieg gab ihr Misra Torniainen (38). Ein Mann mit komplizierter Kindheit und kreativer Karriere.
Publiziert: 23.02.2022 um 20:29 Uhr
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Aktualisiert: 24.02.2022 um 12:11 Uhr
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Die Olympia-Heldin und ihr Erfolgstrainer: Eileen Gu feiert im Bus mit Misra Torniainen.
Sebastian Rieder

Die Volksrepublik liegt ihr zu Füssen. Gold im Big Air, Silber im Slopestyle, Gold in der Halfpipe. Das Vermächtnis verkörpert den Stolz einer ganzen Nation. Eileen Gu geht bei den Frauen als die grösste Figur von Peking 2022 in die Geschichte ein. Die Schnee-Prinzessin, wie Chinas adoptierte US-Amerikanerin genannt wird, ist mit ihren drei Medaillen medial zur neuen Kaiserin erkoren worden.

Hinter dem Erfolg des millionenschweren Fashion-Models steht die Mutter und ein ganzer Hofstaat bestehend aus Ärzten, Bodyguards, einem Privatkoch, Physiotherapeuten und Servicemann. Hinzu kommen ein Dolmetscher, ein Organisator und zwei Trainer. Einer davon ist Misra Torniainen.

Seit einem halben Jahr begleitet der 38-jährige Schweizer die Mutter und die Tochter um die halbe Welt. «Gu war ein grosser Glücksgriff für mich. Sie ist ein Wunderkind. Es war aber auch ein Risiko, weil von allen Seiten sehr viel verlangt wurde», sagt Torniainen. «Eileen war schon vor Peking die Beste – mein Auftrag war es aber, sie noch besser zu machen. Sie ist eine Perfektionistin und will nichts dem Schicksal überlassen.»

Gu liebt die Schweiz, die Schokolade und den Käse

Eine grosse Rolle spielte der Zufall hingegen beim ersten Kontakt in der Schweiz, als Torniainen vor einem Jahr für die Skimarke Faction, dem Ausrüster von Gu, in Silvaplana bei einem Werbedreh als Trainer mithilft. «Ich hatte vorher schon viel von ihr gehört und mich dann mit ihr und der Mutter unterhalten», sagt Torniainen.

Nach wochenlanger Funkstille kommt die Anfrage, die Ausnahmeathletin technisch und mental auf ein neues Level zu hieven. Für die Mission Olympia setzt Torniainen seinen Job als Bereichsleiter im Indoor-Surf-Center Oana in Ebikon LU ein halbes Jahr aus. Er zeigt ihr neue Tricks und schafft für sie optimale Trainingsbedingungen.

Über ein Camp in Österreich führt der Weg wieder in die Schweiz – zum intensiven Feinschliff nach Saas-Fee. «Eileen ist begeistert von den Bergen. Sie liebt aber vor allem die Schokolade und den Käse. Sie hat hier alles probiert. Fondue und Raclette», sagt Torniainen voller Stolz über seine Heimat.

In Laax findet Torniainen die grosse Liebe

Dabei ist sein Name alles andere schweizerisch. Misra, eine indische Abwandlung, aufgeschnappt von seinen Eltern während einer Reise durch Indien. Zur Welt kommt der Sohn einer Schweizerin und eines Franzosen mit italienischen Wurzeln jedoch als Raphaël Noto in Marseille.

Drei Jahre nach der Geburt kommt es zur Scheidung. Die Mutter ist auf sich alleine gestellt. «Ich habe meinen Vater kaum gekannt. Als Jugendlicher habe ich ihn nur einmal gesehen, und als ich 21 Jahre alt war, ist er dann verstorben», erzählt Torniainen.

«Alle wollen ein Selfie oder ein Autogramm von ihr»
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Gu-Trainer Misra Torniainen:«Alle wollen ein Selfie oder ein Autogramm von ihr»

Den neuen Nachnamen hat der zweifache Familienvater von seiner finnischen Frau Meri. Eine Liebesgeschichte, die vor fast 20 Jahren in Laax ihren Anfang findet. Die Finnin verknallt sich in den verrückten Skifahrer, der auf dem Grap Sogn Gion grosse Sprünge macht.

Knapp volljährig greift der gelernte Bauzeichner 2001 zu EM-Gold im Big Air und gewinnt dann auch noch das Freestyle.ch am Zürichsee. Als Halbprofi hält er sich dank Sponsoren jahrelang über Wasser, bis er sich nach einer Trampolin-Show im Schweizer Fernsehen unglücklich das Knie kaputt macht.

Von der Wasserschanze auf die Weltbühne

Fast nahtlos startet er eine neue Karriere beim Verband. 2008 zuerst als Assistenztrainer und nach Vancouver 2010 verantwortlich für den Aufbau des Freeski-Bereichs. Gleichzeitig malt sich Misra mit Meri eine lange Zukunft aus und macht mit ihr unbewusst eine Reise in die Vergangenheit. Sie ziehen zusammen in eine Wohnung nach Mettmenstetten, wo er als kleiner Knopf im Kinderheim aufgewachsen war.

Erinnerungen kommen hoch. An das kleine Dorf mit der grossen Wasserschanze Jumpin. Erbaut von Freestyle-Pionier Sonny Schönbächler nach dessen Olympiasieg 1994 in Lillehammer. Als Primarschüler schielt Misra im Sommer von der Badi über den Zaun. Bis er sich eines Tages aufs Trampolin getraut und dann später die Mutprobe auf der Schanze besteht.

Es ist der Startschuss einer über zehnjährigen Karriere als Freestyler. Dass er einmal Trainer wird, konnte er sich damals nicht vorstellen. Schon gar nicht von einem Superstar wie Eileen Gu. «Es ist immer noch surreal», sagt Torniainen und versucht den Wahnsinn in Worte zu fassen. «Die Geschichte, die wir mit Gu geschrieben haben, ist gigantisch. Unglaublich, wie sie dem Druck an Olympia standhielt.»

Triumph und Trennung mit Swiss-Ski

Gleich zu Beginn der Winterspiele machte Gu im Big Air einen Trick, den sie vorher, noch nie geübt hatte. «Das war überwältigend, einfach grosses Kino», sagt Torniainen und verrät, dass die Mutter und selbst Chinas Sportminister anfänglich dagegen waren, so viel Risiko einzugehen. «Ich konnte viel von meiner Erfahrung einfliessen lassen und habe allen eine gewisse Gelassenheit mitgegeben.»

Gu gewinnt gewinnt das Duell gegen die Französin Tess Ledeux und die Schweizerin Mathilde Gremaud. Diese schlägt im Slopestyle zurück und schnappt Gu die Goldmedaille weg. Sie macht ihren Medaillensatz komplett. 2018 holte sie in Pjöngjang schon Silber, geschlagen von ihrer Landsfrau Sarah Höfflin. Der Trainer der beiden: Misra Torniainen.

Nach dem Schweizer Doppelsieg gehen die Wege auseinander. Torniainen will sich zuhause mehr um die Kinder kümmern und den Fokus auch beim Verband intensiver auf den fehlenden Nachwuchs setzen.

Swiss-Ski aber fehlt das Budget für eine Vollzeitstelle und bietet ihm lediglich ein Pensum von 60 Prozent an. «Das war für mich leider keine Option. Aber so ist das Leben. Wenn sich eine Türe schliesst, öffnet sich eine andere», sagt Torniainen ganz gelassen und träumt vom nächsten Abenteuer.

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