Der Wunsch nach frischer Luft ist nach einigen Tagen grösser als das Schamgefühl. Anina Wildi (21) zieht die Kapuze tief in ihr Gesicht. «Hoffentlich erkennt mich niemand», denkt sich die Kunstturnerin. Dann rollt sie auf die Strassen ihres Heimatdorfes Schafisheim im Kanton Aargau. Hinter ihr steht Mutter Andrea. Ohne fremde Hilfe kann sich die zweifache WM-Teilnehmerin nicht fortbewegen. Wildi sitzt im Rollstuhl. Ihre Beine schmerzen. Die linke Schulter muss sie stillhalten.
Die Szenerie aus dem Frühling 2023 ist der vorübergehende Tiefpunkt einer Leidensgeschichte, die vor drei Jahren begann. Wildi verspürt während eines Trainings Schmerzen an ihren Schienbeinen. Nichts Besonderes. «Jedem tut etwas weh, der hier gerade turnt», sagt Wildi und zeigt von der Tribüne aus auf die Kinder in der Kunstturnhalle in Lenzburg AG.
Komplikationen nach der Operation
Doch an der EM 2022 in München waren die Schmerzen nach einer Landung kaum auszuhalten. «Da realisierte ich, dass etwas nicht gut ist.» Gleichzeitig qualifizierte sie sich für die WM, welche wenige Monate später stattfand. Wie weiter? «Ich biss auf die Zähne. Diese Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen.» Im WM-Mehrkampf turnte sie auf Rang 67.
Danach folgten detailliertere Abklärungen beim Arzt. Dieser stellte die Diagnose: Kompartmentsyndrom an beiden Unterschenkeln. «Dabei sammelt sich Flüssigkeit in oder um das Muskelgewebe oder in einem bestimmten Abschnitt (Kompartiment) an», erklärt Johannes Scherr von der Universitätsklinik in Balgrist. Dies führe zu einem erhöhten Druck, der nicht entweichen kann. «Das Gewebe schwillt an, was die Durchblutung stört und Nerven schädigen kann», so der Chefarzt des Schweizerischen Turnverband.
Die Operation, die nicht in der Universitätsklinik in Balgrist stattfand, verlief suboptimal. Die Muskeln von Wildi füllten sich mit Blut. «Sie waren grünlich geschwollen. Es sah übel aus», so die Kunstturnerin. Sie musste ihre Beine tagelang hochlagern, bis die Schwellung zurückging.
Ein Glücksfall in der Familie
Knapp eine Woche später operierte sie ihre linke Schulter. «Da ich sowieso ausfalle, wollte ich diese Eingriffe gleich kombinieren.» Weil die Schmerzen beim Gehen mit den amerikanischen Krücken zu gross waren, landete die Aargauerin im Rollstuhl. «Ich fühlte mich wie ein Wrack. Plötzlich war ich ein Pflegefall.»
Mit nur einem fitten Arm liess sich der Rollstuhl schlecht bedienen. Fortan war sie von ihrer Mutter abhängig. «Ich konnte nicht einmal alleine auf die Toilette. Das war richtig unangenehm», so Wildi, die mit vier Geschwistern aufgewachsen ist. Dass ihre Mutter seither nicht mehr arbeitet, entpuppte sich als Glücksfall. «Wer hätte sich sonst derart liebevoll um mich gekümmert?»
Unangenehme Blicke aus der Ferne
Aufgrund der operierten Schulter musste Wildi lernen, auf dem Rücken einzuschlafen. «Keine einfache Sache», meint sie lachend. Gleichzeitig büffelte sie für den ersten Teil ihrer Matura-Prüfungen. Eine willkommene Abwechslung. Wobei sie sich schlecht konzentrieren konnte. «Meine Beine schmerzten immer wieder.» Die Tests absolvierte sie trotzdem erfolgreich.
Erst einige Tage nach der OP wagte sich Wildi auf die Strasse in Schafisheim. Man kennt sich im 2600-Seelen-Dorf. Oft musste sie in ein paar Sätzen erklären, was vorgefallen ist. Einige haben sie aus der Ferne beobachtet. «Diese Blicke sind mir eingefahren. Da fühlte ich mich richtig unwohl.» Nach einem Monat war der Spuk vorbei. Wildi durfte den Rollstuhl zur Seite stellen.
Zurück auf der grossen Bühne
Als es darum ging, wieder mit dem Kunstturnen anzufangen, kamen Zweifel auf. «Ich hatte Angst, nicht mehr so gut zu werden, wie ich einmal war.» Bei Kolleginnen ausserhalb der Turnszene informierte sie sich über das «normale» Leben. Unattraktiv tönte dies nicht. «Ich dachte an den Rücktritt», gibt Wildi zu.
In dieser Zeit musste sie sich zum Training zwingen. Doch nach jeder Einheit verliess sie das regionale Leistungszentrum in Lenzburg überglücklich. «Das zeigte mir, wo ich hingehöre.» Dass sie am richtigen Ort ist, bewiesen die Selektionswettkämpfe in Magglingen BE. Wildi steht im Kader für die Europameisterschaft in Rimini (It) von Anfang Mai.
Die Europameisterschaft im Kunstturnen findet vom 24. bis 28. April (Männer) und vom 2. bis 5. Mai (Frauen) in Rimini (It) statt.
Das Team der Männer
Christian Baumann (TV Lenzburg)
Luca Giubellini (STV Eien-Kleindöttingen)
Matteo Giubellini (STV Eien-Kleindöttingen)
Noe Seifert (Kutu Satus Oro)
Taha Serhani (STV Hegi)
Luca Murabito (Kutu Satus Oro)
Das Team der Frauen
Martina Eisenegger (TV Rüti)
Samira Raffin (Kunstturnerinnen Zürich-Oerlikon)
Stefanie Siegenthaler (TV Hinwil)
Anina Wildi (TV Lenzburg)
Anny Wu (Kutu Obersiggenthal)
Die Europameisterschaft im Kunstturnen findet vom 24. bis 28. April (Männer) und vom 2. bis 5. Mai (Frauen) in Rimini (It) statt.
Das Team der Männer
Christian Baumann (TV Lenzburg)
Luca Giubellini (STV Eien-Kleindöttingen)
Matteo Giubellini (STV Eien-Kleindöttingen)
Noe Seifert (Kutu Satus Oro)
Taha Serhani (STV Hegi)
Luca Murabito (Kutu Satus Oro)
Das Team der Frauen
Martina Eisenegger (TV Rüti)
Samira Raffin (Kunstturnerinnen Zürich-Oerlikon)
Stefanie Siegenthaler (TV Hinwil)
Anina Wildi (TV Lenzburg)
Anny Wu (Kutu Obersiggenthal)