Der grosse Moment kommt am Freitagabend in Belgrad kurz vor 21 Uhr: Mujinga Kambundji (29) katapultiert sich an der Hallen-WM über 60 m aus den Startblöcken, fegt vom ersten Schritt an los. Auf der Bahn ganz rechts aussen zieht die Bernerin an und sogleich unwiderstehlich davon, die Gegnerinnen in der Mitte bekommen gar nicht so richtig mit, wie ihnen geschieht.
6,96 Sekunden später überquert Kambundji als Weltmeisterin die Ziellinie – und findet sich in den Geschichtsbüchern wieder: In diesem Jahrtausend war keine Frau so schnell wie sie. 23 Jahre ist es her, dass jemand gleich rasant unterwegs war wie die Schweizerin, die Griechin Ekaterini Thanou lief 1999 in Japan ebenfalls 6,96.
Rothenbühlers Coaching-Kniff
Kambundjis Wahnsinns-Lauf geht auch ein Coaching-Kniff voraus. Nach eher verhaltenen Auftritten im Vorlauf und im Halbfinal beschloss Trainer Adrian Rothenbühler, das Technik-Coaching, auf das er den ganzen Tag gesetzt hatte, in die Tonne zu treten. «Ich sagte mir: ‹Hör auf über Technik zu sprechen und beschwöre stattdessen die Emotionen herauf›», erklärt er bei «SRF».
Seine Botschaft: Kambundji muss «endlich wieder mal ihr Löwinnenherz auspacken und alle hier in Grund und Boden laufen». Keinen einzigen Start übt sie im Warmup vor dem Final, obwohl sie dort in den ersten beiden Läufen des Tages am meisten liegen lässt. Rothenbühlers Ansage: «Jetzt wird einfach Dampf gemacht.»
Auf Augenhöhe mit den ganz Grossen
Genau das tut Kambundji. Die Frau, die auch nach ihren fabelhaften Leistungen bei den Olympischen Spielen in Tokio mit drei Sprint-Final-Qualifikationen immer davon gesprochen hatte, dass noch mehr möglich sei und die nie ganz zufrieden war, haut so richtig einen raus. «Ich wusste, wenn ich gut laufe, gibt es eine schöne Medaille», sagt sie danach. Jetzt ist es eine historische Goldmedaille geworden. Der unbändige Wille, immer besser werden zu wollen und sich auf den olympischen Ehrenmeldungen nicht auszuruhen, zahlt sich aus.
So ist sie nun auf Augenhöhe mit den ganz Grossen der Sprint-Geschichte. Die einzigen Frauen, die jemals schneller waren als sie: Irina Priwalowa, Gail Devers und Marion Jones. Alle drei wurden Olympiasiegerinnen. Bei allen dreien – wie auch bei Thanou – gab es mehr oder weniger handfeste Hinweise auf Doping-Machenschaften.
Die gibt es bei Kambundji nicht. Dafür gibt es für sie die Krönung ihrer Karriere – die vorläufige. Denn wer weiss, was die nächsten Monate noch bringen? Die Leichtathletik-Saison hat gerade erst angefangen, im Sommer stehen mit WM und EM zwei gewichtige Freiluft-Highlights auf dem Programm. Auch dann wird mit der Jahrtausend-Sprinterin aus Köniz bei Bern zu rechnen sein.