Für einen Moment gefriert Simon Ehammer (22) das Blut in den Adern. «Wenn du Auge in Auge mit dem Tier bist und der dich mit seinen kalten Augen aus 30 Zentimetern Distanz anschaust, ist das kurz ein mulmiges Gefühl», sagt der Schweizer Leichtathletik-Überflieger. Die kalten Augen gehören Jocho, einem zwölfjährigen Weisskopfseeadler. «Und eigentlich war er ganz nett. Aber du weisst halt, dass es ein wildes Tier ist.»
Für den Blick-Termin mit Jocho hat sich der Appenzeller die Schwägalp am Fuss des Säntis ausgesucht. Von hier zieht der Zehnkämpfer aus, um an der WM in Eugene die Weitsprung-Konkurrenz aufzumischen. Hebt er nach der Begegnung mit dem Adler in den USA sportlich komplett ab?
Die Chancen stehen gut. Keiner ist in dieser Saison weiter geflogen als Ehammer, der Ende Mai in Götzis auf 8,45 m sprang. Der Grieche Militadis Tentoglou dürfte der härteste Konkurrent werden. «Gold geht sicher über ihn», sagt Ehammer. Wie der Schweizer und der Inder Sreeshankar sprang der Olympiasieger und Hallenweltmeister bereits zweimal über die 8,30 m. «Zuerst muss ich den Final erreichen, sagt er bescheiden vor der Weitsprung-Quali in der Nacht auf Samstag. Zwölf Finalplätze sind zu vergeben, es wäre eine faustdicke Überraschung, wenn «Aber dann ist eine Medaille das Ziel.»
Keiner will gegen ihn verlieren
Er weiss gleich ein paar Trümpfe auf seiner Seite. Da ist seine Coolness: Kaum etwas scheint ihn aus der Balance zu bringen. Er liebt das Rampenlicht: Wenn die Bühne am grössten ist, ist Ehammer gut. Und er ist der Underdog, der die Arrivierten aufmischt: Eigentlich ist der Schweizer ja Zehnkämpfer. Für seine Konkurrenten eine psychologische Herausforderung. «Die wissen, ‘Gopf, das ist ein Mehrkämpfer, der hat noch neun Disziplinen und springt weiter als ich.’ Die dürfen eigentlich gegen mich nicht verlieren. Und für mich ist es ein Zusatz-Boost, weil ich zeigen will, dass Mehrkämpfer auch auf diesem Niveau springen können.»
Mittlerweile haben sich Ehammer und Jocho aneinander gewöhnt. «Er passt mit seinen Krallen extrem gut auf. Die sind zwar scharf, aber er setzt sie ganz sanft auf», stellt er fest.
Der Vogel wiegt 3,5 Kilo – das geht in die Muskeln
«Du musst den Arm gerade halten», erklärt ihm Lucien Nigg vom Greifvogelpark Buchs, der Jocho zum Shooting auf die Schwägalp mitgebracht hat. Weil sich der Adler in der freien Wildbahn normalerweise waagrechte Äste aussucht, bevorzugt er als Sitzgelegenheit horizontal ausgestreckte Arme. «Das geht schön in die Muskeln», sagt Ehammer lachend über das 3,5 Kilo schwere US-Wappentier. «Es ist wie beim Krafttraining: Die ersten Wiederholungen gehen gut, danach wird es hart.»
Gut also, dass er noch ein bisschen Zeit zum Erholen hat, bevor es in Eugene ernst gilt. «Wenn ich an den Wettkampf denke, habe ich ein ähnliches Feeling wie vor Götzis.» Da segelte er auf 8,45 m. «Ich spüre diese absolute Spannung, als ob ich gleich explodieren würde. Lasst mich endlich los!» Der Adler Ehammer ist bereit zum Abflug.