Blick: Herr Günthör, herzlichen Glückwunsch!
Werner Günthör: Wofür? Weil ich 60 werde?
Nein, Sie halten seit über 30 Jahren einen aussergewöhnlichen Weltrekord.
Welchen?
Den im Journalistinnen-Hochwurf.
(Überlegt lange und lacht dann laut) Stimmt, den stellte ich zusammen mit meinem österreichischen Trainingspartner Klaus Bodenmüller auf. Wir wurden damals in Götzis von einer ORF-Journalistin interviewt. Am Ende des Gesprächs packten wir sie und warfen sie über die Hochsprunglatte. Das war echt witzig.
Haben Sie schon als Kind gerne Streiche gespielt?
Ich war ein wildes Kind. Wir sind mit selbst gebauten Seifenkisten die Hügel runtergedüst und dabei gecrasht. Oder wir haben uns auf dem Bodensee an Kursschiffen festgehalten und sind mitgefahren.
1982 fing für Sie der sportliche Ernst des Lebens an. Sie kamen damals als 21-Jähriger nach Magglingen. Wie war das?
Diese Zeit hat mich schon sehr geprägt. Ich hatte Gastrecht bei den Kunstturnern und lebte in einem kargen Drei-Bett-Zimmer, mit einem Etagen-WC. Früher musste man für seine Träume kämpfen. Es wurde einem nichts geschenkt. Heute ist alles verfügbar. 24 Stunden am Tag, quasi à discrétion.
Haben Sie damals schon anständig Geld verdient?
Ich erhielt vom Stadtturnverein Bern pro Monat etwa 600 Franken. Für mich als junger Sportler war das viel Geld. Doch davon musste ich leben und meine Rechnungen bezahlen.
Fragten Sie sich nie: Ist es das alles wert?
Doch, einmal. Mitten im Training hat es mir abgelöscht. Ich sagte zu meinem Trainer Jean-Pierre Egger: «Ich kann nicht mehr.» Ich floh aus meinem Trainingsalltag und ging in den Thurgau, zu meiner Familie und zu meinen Freunden. Ich brauchte diese Auszeit, doch dann fand ich zurück zu meiner Willensstärke und fuhr nach einer Woche wieder nach Magglingen.
Warum?
Weil ich das Maximum rausholen wollte und immer von Olympia träumte. Die Chance, dieses Ziel zu erreichen, war in Magglingen nun mal am grössten.
Den späteren dreifachen Kugelstoss-Weltmeister Günthör hätte es aber trotzdem fast nicht gegeben, denn 1986 wären Sie beinahe American Footballer geworden.
In jenem Jahr wurde ich erstmals Europameister, trotzdem verdiente ich nichts. Ich wusste: So kann es nicht weitergehen. Ein Kollege sagte mir dann, er könne den Kontakt zu den San Francisco 49ers herstellen. Später wurde gar schon ein Probetraining vereinbart, doch dann fand ich einen Sponsor, der mir 4000 Franken monatlich zahlte. Das reichte mir, um meine Karriere im Leistungssport fortzuführen. Deshalb blieb ich Kugelstösser.
Haben Sie diese Entscheidung jemals bereut?
Nein, meine Freunde rieten mir damals: «Werni, mach das nicht! Die Amerikaner machen dich körperlich zur Schnecke.» Doch die körperlichen Voraussetzungen für eine Karriere als Footballer wären günstig gewesen, denn ich war gross, schnell und beweglich.
Eine Entscheidung, die sich auszahlte. 1987 wurden Sie draussen Weltmeister und gewannen in der Halle den Vize-WM-Titel. Sind Sie sich eigentlich bewusst, dass Sie dem legendären schwedischen Hochspringer Patrik Sjöberg damals den Indoor-WM-Titel vermasselt haben?
Nein, weshalb?
Sie sollen ihn einen Tag zuvor im Training in Indianapolis demotiviert haben …
Stimmt, Klaus Bodenmüller und ich haben im Training oft Stand-Hochsprung gemacht. Sjöberg kam da auf uns zu und sagte: «Was machen hier die Elefanten?» Ich habe ihm dann gesagt: «Lass uns schauen, wer höher springt. Und der Verlierer zahlt ein Abendessen.»
Wie ging der Wettkampf aus?
Ich sprang aus dem Stand rückwärts über 1,80 Meter. Sjöberg blieb nur verdutzt stehen, packte seine Tasche, lief weg und sagte: «Ich habe noch nie einen Elefanten so hoch springen sehen.»
Am nächsten Tag schied er ohne gültige Höhe aus. Hat er Ihnen mal das Essen bezahlt?
Nein, bis heute nicht (lacht).
Auch Sie hatten trotz Ihrer drei WM-Titel Tiefschläge zu verkraften. Stichwort Olympia 1992. Damals waren Sie der grosse Favorit.
An jenem Tag ging alles schief. Wir gingen mit dem Bus zum Stadion, doch der Chauffeur verfuhr sich. Deshalb kam ich verspätet an und konnte mich kaum noch aufwärmen. Irgendwann riss der Faden, ich war nicht mehr mich selber. Mein fünfter Versuch hätte locker für Silber gereicht, doch leider war er ungültig. Am Ende wurde ich deshalb nur Vierter. Solche Momente gehören zu einer Sportler-Karriere dazu. In solchen Situationen wird man reifer und stärker.
Weltmeister 1987, 1991, 1993, Europameister 1986 und Olympia-Bronze 1988 – das ist die Erfolgsbilanz von «Kugel-Werni». 1986, 1987 und 1991 wurde der Thurgauer zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt.
Mit 22,75 m liegt der gelernte Sanitärinstallateur in der ewigen Bestenliste noch immer auf Platz 8. Während seiner Karriere soll er schätzungsweise 60’000 Mal die Kugel gestossen haben.
Nach seinem ersten WM-Titel 1987 wurde in Uttwil TG die Werner-Günthör-Strasse eingeweiht («darauf bin ich wirklich stolz, eine schöne Geste»). Später gab es in Mauretanien gar eine Günthör-Briefmarke («ich habe bis heute keine Ahnung, wie es dazu kam»).
Günthör lebt seit bald 25 Jahren zusammen mit seiner Frau Nadja in Erlach am Bielersee. Er bildet heute in Magglingen Sportlehrer aus und fährt in seiner Freizeit leidenschaftlich gerne Motorräder.
Weltmeister 1987, 1991, 1993, Europameister 1986 und Olympia-Bronze 1988 – das ist die Erfolgsbilanz von «Kugel-Werni». 1986, 1987 und 1991 wurde der Thurgauer zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt.
Mit 22,75 m liegt der gelernte Sanitärinstallateur in der ewigen Bestenliste noch immer auf Platz 8. Während seiner Karriere soll er schätzungsweise 60’000 Mal die Kugel gestossen haben.
Nach seinem ersten WM-Titel 1987 wurde in Uttwil TG die Werner-Günthör-Strasse eingeweiht («darauf bin ich wirklich stolz, eine schöne Geste»). Später gab es in Mauretanien gar eine Günthör-Briefmarke («ich habe bis heute keine Ahnung, wie es dazu kam»).
Günthör lebt seit bald 25 Jahren zusammen mit seiner Frau Nadja in Erlach am Bielersee. Er bildet heute in Magglingen Sportlehrer aus und fährt in seiner Freizeit leidenschaftlich gerne Motorräder.
Ihre grössten Gegner waren Sportler aus der DDR. Welches Verhältnis hatten Sie zu denen?
Vor allem zu Udo Beyer hatte ich ein sehr gutes. Heute ist er ein grossartiger Freund von meiner Frau Nadja und mir. Dank ihm war ich übrigens der erste Sportler aus dem kapitalistischen Ausland, der im DDR-Fernsehen auftreten durfte.
Wann war das?
Kurz vor dem Fall der Mauer, wohl im September 1989. Die Sendung hiess «Ein Abend mit ...» Ich trat dort zusammen mit Beyer und Ulf Timmermann auf.
Wie wars in der DDR?
Schon sehr speziell. Natürlich hat man sich immer gefragt, ob der oder der ein Spitzel sein könnte und ob ich im Hotelzimmer abgehört wurde. Das war manchmal schon ein beklemmendes Gefühl. Ich war jeweils froh, wenn ich am Checkpoint Charlie wieder in den Westen ausreisen konnte. Dabei gab es einmal sogar einen kleinen Disput mit einem Zöllner.
Erzählen Sie!
Er fragte mich: «Haben Sie was zu verzollen?» Ich antwortete nur: «Ich wüsste nicht, was ich aus der DDR mitnehmen sollte.» Das fand er gar nicht lustig und wurde richtig sauer.
Ich habe im Vorfeld mit Beyer geredet. Er sagt: «Erst kam Wilhelm Tell und dann der Kugel-Werni. Wenn man mit ihm durch Bern läuft, wird er noch heute dauernd angesprochen.» Wie erklären Sie sich Ihre Popularität?
Ich weiss es nicht. Ich bin sicherlich immer bescheiden geblieben, auch weil ich so aufgewachsen bin. Meine Eltern hatten nicht viel Geld. Mein ältester Bruder durfte noch das Semi machen, doch als der mittlere auch noch studieren wollte, hiess es: «Das geht nicht, wir haben kein Geld, du musst eine Lehre machen.» Das hat uns sicherlich geprägt. Hinzu kommt meine Offenheit. Ich gebe immer eine ehrliche Antwort.
Wenn wir schon beim Thema Ehrlichkeit sind, frage ich Sie ganz direkt: Haben Sie gedopt?
Diese Frage kann ich nicht mehr hören. Sie wird mir seit Jahrzehnten dauernd gestellt.
Das beantwortet aber meine Frage nicht.
Auf diese Frage gibt es rückblickend nicht einfach ein Ja oder ein Nein. Als Spitzensportler geht man an die Grenzen und versucht auszuloten, was noch erlaubt ist und was nicht. Damals gab es sogenannte Therapiefenster, in denen ich wegen Verletzungen vom Arzt mit Medikamenten behandelt wurde, die zwar schulmedizinisch richtig waren, für Sportler aber auf der Dopingliste standen. Während dieser Zeit konnte ich ja weder normal trainieren noch Wettkämpfe bestreiten. Das war damals legal. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas Verbotenes getan habe. Als Spitzensportler wollte ich möglichst schnell wieder fit sein, um Leistung erbringen zu können. So einfach war das.
Heute ist das verboten! Und manche Experten sagen, dass das schon damals nicht legal war.
Früher durfte man auf der Autobahn auch 200 km/h fahren und heute nur noch 120 km/h. Kann man deshalb sagen, dass man früher gerast sei und deshalb betrogen habe und nachträglich bestraft werden sollte? Ich finde nein.
Dann frage ich mal anders: 1992 in Barcelona wurden Sie Olympia-Vierter. Die drei Kugelstösser vor Ihnen hatten zuvor alle schon mal eine Dopingsperre absitzen müssen und erhielten danach eine zweite Chance. Wurden Sie betrogen?
Nein! Es gab Regeln, an die man sich halten musste. Wer dies nicht tat, wurde gesperrt, was richtig ist.
Hat man als Doper eine zweite Chance verdient?
Das muss jeder für sich selber entscheiden. Wie weit da die Meinungen auseinanderklaffen, möchte ich an einem anderen Vergleich darstellen: In den USA wird ein Mörder hingerichtet, in der Schweiz kommt er nach 18 Jahren wieder raus. Was ist richtig?
Als der «Tages-Anzeiger» Ihnen im Jahr 2000 Doping unterstellte, gingen Sie trotzdem dagegen vor und setzten eine Gegendarstellung durch. Warum?
Natürlich wehre ich mich noch heute, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle. Aber mir gehen die Vorwürfe auf den Keks. Am Schluss soll jeder glauben, was er will. Ich kann ohne schlechtes Gewissen in den Spiegel schauen, und das ist das Wichtigste.
Kommen wir zu einem schöneren Thema. Sie sind seit 28 Jahren mit Nadja verheiratet. Stimmt die Geschichte, dass Sie ihr zu Beginn gesagt haben, «zuerst kommt der Sport, dann du»?
Ja, das hat sie damals auch verletzt, aber es war Tatsache und für mich wichtig. Als Spitzensportler musst du manchmal gnadenlos sein. Und als Frau eines Spitzensportlers musst du einiges erdulden und oft hinten anstehen können. Nadja zeigte Verständnis und hat mich dabei immer unterstützt.
Vor einigen Jahren wurde bei Nadja Brustkrebs diagnostiziert. Wie gingen Sie damit um?
Mir wurde noch mehr bewusst, dass ein Leben ohne sie für mich unvorstellbar ist. Eigentlich wollen wir Männer ja immer die Helden spielen, aber in Wirklichkeit sind wir doch «Mimöseli».
Was haben Sie damals gelernt?
Wir Menschen möchten immer alles unter Kontrolle haben, doch dann zeigt dir das Leben auf einmal die Limiten auf. Von heute auf morgen kann alles vorbei sein. Es ist eben nicht alles steuerbar. Zum Glück geht es Nadja heute wieder gut.
Diesen Dienstag werden Sie 60. Wissen Sie, mit was Sie dann anfangen müssen?
Nein, was meinen Sie?
Sie haben vor Jahren in einem Interview gesagt, dass Sie mit 60 das Gitarrespielen erlernen möchten.
Stimmt, ich habe damals eine signierte Gitarre von Stephan Eicher ersteigert. Die steht bereit zum Spielen. Viel Zeit bleibt mir demnach nicht mehr.
Was wünschen Sie sich zum 60.?
Die Zahl 60 bedeutet mir nichts. Ich möchte einfach so weiterleben wie bisher und das Leben geniessen.