Schiedsrichter-Legende Urs Meier
«Die wollten dich mit Frauen anfüttern»

Wir waren Helden! Urs Meier (62) über Bestechungsvorwürfe mit Frauen, Streitereien mit Spielern und Horrorfahrten mit Polizisten.
Publiziert: 10.05.2021 um 00:33 Uhr
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Aktualisiert: 03.09.2021 um 19:07 Uhr
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Unglaubliche Zahl: Urs Meier hat zwischen 1977 und 2004 insgesamt 883 Spiele gepfiffen.
Foto: BENJAMIN SOLAND
Daniel Leu (Interview) und Benjamin Soland (Foto)

SonntagsBlick: Herr Meier, wann waren Sie das letzte Mal in England?
Urs Meier:
Das muss vor acht, neun Jahren gewesen sein. Ich war damals mit meiner Familie für ein Wochenende in London.

Und wie wars?
Alles bestens, wir logierten in einem guten Hotel. Beim Auschecken sagte der Rezeptionist nur: «Herr Meier, wir haben Sie schon erkannt!»

2004 wurden Sie zum Hassobjekt jedes englischen Fussballfans. Damals annullierten Sie im Viertelfinal in der 89. Minute den vermeintlichen Siegestreffer Englands gegen Portugal. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Szene?
Du musst auch mal was pfeifen, was du nicht gesehen hast. So war es damals.

Sie haben das Foulspiel von John Terry an Portugals Goalie Ricardo gar nicht gesehen?
Nein! Ich hatte keine Ahnung, spürte aber, dass das Bild von der ganzen Situation nicht stimmig war. Der Arm des Goalies war nicht dort, wo er eigentlich hätte sein sollen. Mein Bauch sagte deshalb sofort: Foul! Das war der Grund, warum ich gepfiffen hatte.

Wie gings weiter?
Vor der Verlängerung kam Englands Trainer Sven-Göran Eriksson auf mich zu und sagte: «Ich habe die Szene im TV gesehen. Es war ein Fehlentscheid. Sie haben jetzt noch zweimal 15 Minuten Zeit, das wiedergutzumachen.»

Was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?
Das war natürlich eine Scheiss-Situation. Zehn Minuten nach dem Schlusspfiff und dem Out Englands rief mich meine damalige Freundin Nicole Petignat an und sagte mir, ich hätte richtig entschieden. Da fiel mir ein Stein vom Herzen, und für mich war klar: Jetzt bekomme ich den Final!

Es kam völlig anders. Wann realisierten Sie, dass die Engländer trotz Ihres richtigen Entscheids schäumten?
Am nächsten Morgen ging ich im Hotel zum Frühstück. Normalerweise lagen dort immer alle internationalen Zeitungen auf. An dem Tag aber nicht. Also fragte ich, warum dies so sei. Zuerst antworteten sie mir, dass diese heute nicht gekommen seien. Als ich nachbohrte, meinten sie nur, es sei besser, wenn ich die Zeitungen heute nicht lesen würde.

Was machten Sie dann?
Ich ging ins Internet und hatte 16’000 neue Mails im Posteingang. Dann schaute ich auf der Homepage von «The Sun» nach. Dort stand gross «Swiss banker!», was ich nicht so richtig verstand. Also fragte ich meinen englischen Schiedsrichter-Kollegen. Der meinte, es gäbe drei verschiedene Bedeutungen. Erstens: ein seriöser Banker. Zweitens: einer, der Geld nimmt. Und drittens: «Swiss wanker», auf Deutsch Schweizer Wichser.

Es war die dritte Bedeutung gemeint.
Leider ja. Da habe ich gemerkt, welche Dimensionen das annimmt. Die Schweizer Polizei sagte mir dann, es sei besser, wenn ich in Portugal bleiben würde, da man in der Schweiz nicht für meine Sicherheit garantieren könne.

Sie kehrten trotzdem zurück und tauchten unter. Wo?
Ich war etwa sieben Tage in Soulce im Jura und durfte nicht einmal meiner Familie sagen, wo genau ich war.

Hatten Sie Angst?
Ja, es brauchte ja nur einen, der durchdreht.

Englische Reporter reisten damals nach Würenlos und belagerten Ihr Geschäft und Ihre Familie.
Mein Sohn Cyrill wurde gar auf dem Schulweg abgepasst. Sie boten ihm Geld, Trikots und Besuche von Fussballspielen, wenn er etwas über mich erzählen würde.

Hat sich der englische Fussballverband mal bei Ihnen entschuldigt?
Die FA hat mich später zu einem Cup-Final nach Cardiff eingeladen, wo ich der Gast des Präsidenten war, doch eine Entschuldigung kam nie. Trotzdem ziehe ich den Hut vor dieser Aktion der Engländer. Doch sind wir mal ehrlich: Diese Aktion hat mir rückblickend geholfen, die Revolverblätter haben meine Popularität enorm gesteigert. Wäre das alles nicht passiert, hätte es später mein Engagement beim ZDF vielleicht nie gegeben.

Bereits ein Jahr zuvor waren Sie heftigen Attacken ausgesetzt. Damals pfiffen Sie im entscheidenden EM-Quali-Spiel einen Penalty gegen Rumänien und für Dänemark.
Danach protestierten 5000 Zuschauer vor der Schweizer Botschaft in Bukarest. Das war das erste Mal, dass ich von mir aus selber die Polizei anrief. Doch die meinten nur, sie könnten nicht für meine Sicherheit sorgen.

Damals sollen Sie sogar sieben rumänische Hexen mit einem Fluch belegt haben. Haben Sie davon etwas gespürt?
(Lacht.) Nein, aber vielleicht passierte ja deshalb ein Jahr später das mit den Engländern ...

Urs Meier Persönlich

Urs Meier (62) pfiff zwischen 1977 und 2004 insgesamt 883 Spiele. Darunter WM- und EM-Halbfinals, 2002 den Champions-League-Final oder das politisch brisante WM-Spiel 1998 zwischen den USA und dem Iran.

Nach seiner Schiri-Karriere arbeitete er an der Seite von Jürgen Klopp für das ZDF. Heute ist er bei Blue als TV-Experte zu sehen. Und bietet Referate und Schulungen an.

Meier hat drei Kinder, zwei erwachsene aus seiner ersten Ehe und eine siebenjährige Tochter mit seiner Ehefrau Andrea. Die Familie lebt in Andalusien (Spanien).

Urs Meier (62) pfiff zwischen 1977 und 2004 insgesamt 883 Spiele. Darunter WM- und EM-Halbfinals, 2002 den Champions-League-Final oder das politisch brisante WM-Spiel 1998 zwischen den USA und dem Iran.

Nach seiner Schiri-Karriere arbeitete er an der Seite von Jürgen Klopp für das ZDF. Heute ist er bei Blue als TV-Experte zu sehen. Und bietet Referate und Schulungen an.

Meier hat drei Kinder, zwei erwachsene aus seiner ersten Ehe und eine siebenjährige Tochter mit seiner Ehefrau Andrea. Die Familie lebt in Andalusien (Spanien).

Dass aus Ihnen ein Weltklasse-Schiedsrichter werden würde, war lange nicht vorhersehbar. Stimmt die Anekdote, dass Ihr Vater Ihnen das Fussballspielen verboten hat?
Ja, er sagte immer: «Fussball ist für Doofe.» Deshalb durfte ich nicht in den FC, sondern ging in den Turnverein Würenlos. Erst viel später wurde ich Fussballer.

War er später dann doch noch stolz auf Sie?
Nein, wir hatten nie ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Es wäre schön gewesen, wenn er sich später mal ein Spiel von mir angeschaut hätte. Das war aber nie der Fall.

Aus dem Fussballer Meier wurde später der Schiedsrichter Meier. «Schiedsrichter wird man, weil man kein guter Fussballer war», hat Jürgen Klopp einst gesagt. Hat er recht?
Ja und nein, die Schiedsrichter Serge Muhmenthaler und André Daina waren zuvor zum Beispiel gute Fussballer. Die hatten den grossen Vorteil, dass sie gespürt haben, worum es geht. Ich hingegen musste mir das alles aneignen. Ich habe deshalb viele Spiele analysiert. Wichtig ist für einen Schiedsrichter vor allem, dass er mal selber gespielt hat, egal auf welchem Niveau. Dann weiss er, wo’s den Spielern körperlich und seelisch wehtut und wie man sie als Schiedsrichter schützen kann.

Als Schiedsrichter ist man für Recht und Ordnung verantwortlich. Haben Sie schon mal was Illegales angestellt?
Als Teenager war ich in einer Gang. Da wurden auch Töffli geklaut, die dann richtig ausgeschlachtet wurden. Und alles wurde in einem Schopf aufgehängt. Tanks, Gabeln, Zylinder – dort konnte man dann alles kaufen. Zum Glück haben meine Eltern das nie rausgekriegt. Nachdem auch ich eines klauen musste, hatte ich aber ein so schlechtes Gewissen, dass ich über Wochen hinweg nicht mehr schlafen konnte.

Sie haben in Ihrer Karriere 883 Spiele gepfiffen. Wer war der schwierigste Spieler?
Hoch oben auf der Liste steht Georges Bregy. Der kam dauernd zu mir.
Es war in jedem Spiel das Gleiche. Die ersten Minuten hat er mich immer gelobt. Dann begann er mich leicht zu kritisieren, und irgendwann hat er nur noch gemotzt.

Machte er auch Sprüche?
Ja, einmal hat er mir zur Osterzeit gesagt: «Du pfeifst wie ein Osterhase.»

Gaben Sie ihm dafür die Gelbe Karte?
Natürlich nicht, mich hat es fast «verjagt», ich musste nur noch lachen.

Mit welchem Spieler hatten Sie immer Ärger?
Mit Sébastien Fournier. In jedem Spiel! Es gab wohl keine Partie, in der ich ihm nicht die Gelbe zeigen musste. Meist kam er aufs Spielfeld und sagte: «Aha, Urs Meier, GC-Fan, Blau-Weiss, alles klar!» Dann machte er ein Foul, verwarf die Hände, und ich musste ihm schon wieder eine Gelbe Karte zeigen. Da sagte er wieder: «Klar, ist ja wieder mal typisch.» Das hat sich immer wiederholt, bis zum Spiel Servette – Basel 2000.

Was passierte da?
Ich wurde kurz vorher an der EM vorzeitig nach Hause geschickt. Da kam er wieder auf mich zu und sagte: «Die Uefa hat richtig entschieden.» Da faltete ich ihn so richtig zusammen. «Weisst du was, Fournier? Ich war an der WM, ich war an der EM, und ich habe Champions-League-Halbfinals gepfiffen. All das wirst du nie erreichen, weil du nicht auf meinem Niveau bist!»

Wie hat er reagiert?
Er hat sich kurz geschüttelt und war ab dem Moment der netteste Mensch. Ich musste ihn zwar in diesem Spiel noch vom Platz stellen, hatte danach aber nie mehr Diskussionen mit ihm.

Auch Ihr Verhältnis zu Luis Figo soll speziell gewesen sein.
Ich war eigentlich immer ein grosser Fan von ihm. Doch er gab mir immer das Gefühl, ich sei der letzte Mensch auf Erden. Egal, ob ich für ihn oder gegen ihn gepfiffen hatte. 2008 fuhr ich mit meiner heutigen Frau Andrea an die EM in Basel zum Portugal-Spiel. Auf dem Weg dorthin erzählte ich ihr meine Geschichte mit Figo. Als wir dann im VIP-Raum ankamen, sah ich am anderen Ende des Raumes Figo. Was dann passierte, war unglaublich. Er entdeckte mich, lief durch alle durch, umarmte mich und sagte: «Du warst schon immer mein Lieblingsschiedsrichter.» Ich war nur noch baff.

Welches war der grösste Fehlentscheid Ihrer Karriere?
Ganz klar Basel – GC 2002. Es ging in dem Spiel darum, wer Herbstmeister wird. Als Murat Yakin im Strafraum grätschte, gab ich Gelb und pfiff Penalty. Zuerst wollte ich eigentlich nicht pfeifen, doch dann sah ich, dass der Ball hinter Yakin lag. Also habe ich gedacht, dass er den Ball nicht berührt hat. Ich hatte leider nicht gesehen, dass Yakin den Ball doch getroffen hatte. Ein Riesenfehlentscheid, sogar meine Grossmutter hätte das gesehen. Das hat mich danach noch sehr lange beschäftigt.

Eine Gelbe Karte von Ihnen hat vor allem Fussball-Deutschland sehr lange beschäftigt. WM-Halbfinal 2002. Sie zeigten Michael Ballack die Gelbe. Deshalb war er dann im Final gesperrt.
Natürlich wusste ich vor dem Spiel, dass er bereits ein Sternchen hatte. Grundsätzlich habe ich in solchen Partien die Messlatte für eine Karte höher angesetzt. Doch das Foul von Ballack war eindeutig, ich hatte gar keine andere Wahl.

Haben Sie die Gelbe Karte noch?
Nein, ich bin kein Sammler. Nach der WM fragte mich ein Süddeutscher, der in Würenlos gearbeitet hatte, ob ich sie ihm schenken würde, was ich dann auch tat.

Heute ist diese Karte im Deutschen Fussballmuseum ausgestellt. Wie kam es dazu?
Jahre später rief mich jemand vom Museum an und fragte, wo die Karte jetzt sei. Also rief ich bei der Firma des Süddeutschen an. Das Spezielle daran: Der Chef der Firma und sein Angestellter, dem ich die Karte schenkte, hatten offenbar ein Problem miteinander. Dank meines Anrufs kamen die beiden wieder ins Gespräch und konnten ihr Problem doch noch lösen. Sie sehen: Meine Gelbe Karte an Ballack war doch noch für was gut. Der Angestellte überreichte sie dann schliesslich dem Museum.

Ein anderes Problem gab es bis 1997. Davor betreuten die Heim-Klubs die Schiedsrichter. Gab es Bestechungsversuche?
Sagen wir es so: Bei Spielen in Osteuropa kam es schon mal vor, dass beim Essen scheinbar zufällig attraktive Frauen an den Tisch gebeten wurden. In solchen Situationen musstest du dich aktiv verweigern.

Ist Ihnen das immer gelungen?
Ja, wäre ich darauf eingegangen, wäre meine Karriere so kurz gewesen wie die Röcke dieser Frauen. Es war wie früher beim Fischen. Dort konnte man immer an die gleiche Stelle gehen und die Fische anfüttern. Irgendwann kamen die von alleine. So war es auch in solchen Situationen. Mit den Frauen wollten die dich anfüttern. Wäre ich darauf eingegangen, wären sie beim nächsten Mal einen Schritt weiter gegangen. Deshalb habe ich immer von Anfang an bei allen Geschenken und Angeboten Nein gesagt. Gott sei Dank haben die Fifa und die Uefa dann den Riegel geschoben, und seither ist dieses Thema erledigt.

Apropos Frauen, 2000 titelte Blick: «Urs Meier: Ich liebe zwei Frauen!» Die legendäre Marta Emmenegger schrieb damals: «Das kann nicht gut gehen.» Hatte Sie recht?
(Lacht.) Natürlich, Marta hatte doch immer recht.

2013 wurden Sie nochmals Vater. Wie ist das mit 54?
Toll! Als meine ersten beiden Kinder aufwuchsen, war ich im Leben wegen meines Berufs sinnbildlich auf der Überholspur unterwegs und die Familie an der Raststätte. Ich fuhr dann jeweils nur kurz zur Raststätte rein, sagte Hallo, und weiter ging das Leben auf der Überholspur.

Bereuen Sie das?
Es war der Preis, den du bezahlst für ein solches Leben. Ich habe mich später bei meinen Kindern dafür entschuldigt, dass ich so wenig Zeit mit ihnen verbracht habe.

Wie ist es heute?
Ganz anders. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich auf der Überholspur fahren muss. Ich bin deutlich gelassener und habe es noch keine Sekunde bereut, mit 54 nochmals Vater zu werden.

Wenn wir schon beim Thema Überholspur sind. Sie haben mal gesagt, dass das Gefährlichste an Ihrem Job die Fahrten vom Hotel ins Stadion waren.
Das war jeweils unglaublich, vor allem in Italien. Das erste Mal mitfahren durfte ich bei einem Spiel Inter Mailand – Bayern München. Bruno Galler war damals der Schiedsrichter und ich ein Gast. Die Polizei-Eskorte kam zum Hotel, und los ging die wilde Fahrt. Die fuhren mit 100 km/h durch die Stadt, über Kreuzungen, über rote Ampeln, und bei Stau gings auf die Gegenspur. Der Wahnsinn! Ich war jeweils froh, wenn ich überlebt habe und heil beim Stadion ankam.

Wieso war das so?
Ich habe denen dann mal vorgeschlagen, sie könnten ja jeweils eine Viertelstunde früher zum Hotel kommen und es gemächlicher angehen lassen. Die Polizisten lachten nur, das wollten die nicht. Für die war das eine Challenge. Die haben immer wieder versucht, ihre Rekordzeit vom letzten Mal um ein paar Sekunden zu unterbieten.

Ging das auch mal schief?
Einmal sass ich in einem Mini-Bus schräg auf der Sitzbank. Als die mit 100 über eine Bodenwelle fuhren, hats mir voll eine reingehauen. Ich musste dann das ganze Spiel über mit einer Nackenstarre pfeifen.

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