Es ist ein schöner Frühlingstag, damals, 1996. Die Schweizer Nationalmannschaft bereitet sich auf die Europameisterschaft in England vor. Zwei Jahre nach der WM-Endrunde in den USA gelingt unter Roy Hodgson die erstmalige Qualifikation für eine EM-Endrunde.
Hodgson aber verabschiedet sich nach Mailand, ein diskutiertes Doppelmandat kommt nicht zustande und der Verband verpflichtet Artur Jorge. Es kommt ein grosser Name. Jorge gewinnt mit Porto mehrere Meistertitel und 1987 auch den Meistercup (die heutige Champions League) im Final gegen Bayern München. Und er wird auch mit Paris St. Germain Meister.
An besagtem 28. Mai 1996 sagt Jorge zu seinem Assistenztrainer Hans-Peter Zaugg auf dem Trainingsgelände in Zürich-Fluntern, er solle Pascal Zuberbühler, Massimo Ceccaroni, Marco Walker, Adrian Knup und Alain Sutter in die Garderobe holen. In zwei Sätzen erklärt er ihnen, dass sie bei der EM-Endrunde nicht mit dabei sind. Für Zuberbühler, Walker und Ceccaroni ist dies keine grosse Überraschung. Die Ausbootung von Knup und Sutter aber ist eine Schocknachricht. In etwa so, wie wenn Murat Yakin in einigen Monaten Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri aus dem Aufgebot streichen würde.
«Mein Gott Schorsch»
Über Artur Jorge Braga de Melo Texeira, wie er mit vollem Namen heisst, entlädt sich ein Orkan der Entrüstung. Das Engagement des introvertierten Portugiesen, der mit minimen Kenntnissen des hiesigen Fussballs und der deutschen Sprache sein Himmelfahrtskommando angetreten hat, ist grundsätzlich schon von Beginn weg mit Stirnrunzeln begleitet worden. Er wirkt von Beginn an konzeptlos und rätselhaft.
Aber nach der Ausbootung von Knup und Sutter brechen alle Dämme. Die Volksseele kocht. «Mein Gott Schorsch», titelt eine Zeitung in Anlehnung an die Worte, die er bei seinem Amtsantritt gesagt hat: «Ich danke Gott, dass ich diese Chance in der Schweiz erhalte.»
Der Blick fasst die landesweite Empörung knallhart zusammen und greift in eine der unteren Schubladen. «Jetzt spinnt er!», steht in fetten Buchstaben auf der Titelseite. Das ist im Rückblick eine zu verletzende und diffamierende Schlagzeile. Vor allem, weil sich Jorge nur Monate zuvor einen Hirntumor operativ entfernen lassen musste.
Aber die eiskalte Front der Ablehnung und des Misstrauens im ganzen Land steht. Als Jorge im letzten Vorbereitungsspiel gegen Tschechien in Basel mit 1:2 verliert und in diesem Test vom unter Hodgson jahrelang praktizierten 4-4-2-System abweicht, ist das Kind endgültig in den Brunnen gefallen. Aufgebrachte Anhänger wollen den Medienraum stürmen, Jorge muss unter Polizeischutz das Stadion durch den Hinterausgang verlassen.
Persönliche Schicksalsschläge
An der Endrunde glätten sich die Wogen etwas, nachdem die Schweiz im Eröffnungsspiel Gastgeber England im Wembley ein 1:1 abtrotzt. Aber nach den Niederlagen gegen Holland und gegen Schottland ist das Turnier zu Ende und der Traum, wie Aussenseiter Dänemark vier Jahre zuvor für Furore zu sorgen, ist geplatzt. Schuld hat dieses schnauzbärtige Mysterium aus Portugal. Das ist für die Öffentlichkeit schon vor dem Turnier beschlossene Sache.
Rückblickend macht es den Eindruck, als habe Jorge nach seinem mehrmonatigen Alptraum in der Schweiz das Glück verlassen. Der Kunstliebhaber, der als Spieler für Benfica Lissabon gestürmt ist und in seiner Heimat auch ein Studium abgeschlossen hat, flüchtet nach der EM in England aus der Schweiz und wird Nationaltrainer in Portugal. Es folgen viele weitere Trainerstationen, aber die ganz grossen Erfolge bleiben aus. Nach einer siebenjährigen Pause tritt er 2014 seinen letzten Job in Algerien an. Danach zieht er sich zurück. Gezeichnet auch von persönlichen Schicksalsschlägen. Seine zweite Frau stirbt früh an Krebs. Und 2013 stirbt auch seine 22-jährige Tochter an einem Hirntumor.
«Ich bin ein guter Trainer»
Artur Jorge ist in der Schweiz nie angekommen. Und hat sich in diesem frostigen Umfeld bald unter seiner Baseball-Kappe und hinter seinem imposanten Schnauz versteckt. «Das Engagement in der Schweiz ist die grösste Enttäuschung meines Lebens», hat er mir bei einem Besuch in Teneriffa vor vielen Jahren gesagt, und trotzig angefügt: «Ich bin ein guter Trainer.» Damals durfte ich auch die spannende, warme und liebenswerte Seite dieses Missverstandenen kennenlernen.
Jetzt ist dieses Leben zu Ende. Ein Leben, das irgendwie an den Fado erinnert. Diesen traurigen portugiesischen Musikstil, der den Weltschmerz, die Sehnsucht nach besseren Zeiten und die unglückliche Liebe zum Inhalt hat. Ein Musikstil auch, der das Wirken von Artur Jorge in der Schweiz geradezu verkörpert.