Kein anderes Turnier hat im Vorfeld eine solche Kontroverse ausgelöst, wie die am Sonntag beginnende WM. Am 2. Dezember 2010 verkündete der damalige Fifa-Präsident Sepp Blatter das, was niemand für möglich gehalten hatte. Seither steht Katar am Pranger.
Die Vergabe ist der Höhepunkt des Exzesses der alten Fifa-Garde, die sich jahrelang schamlos bereicherte. Vom damaligen Exekutivkomitee wurden früher oder später praktisch alle verurteilt oder aus dem Fussball ausgeschlossen. Und es ist der Höhepunkt des katarischen Sportswashing.
Nur 300’000 Einheimische zählt das Land am Persischen Golf. Mehr als zwei Millionen Gastarbeiter dienen der von der Herrscherfamilie Al Thani regierten Autokratie, die dank seiner Gas- und Öl-Vorkommen zu den reichsten Ländern der Welt gehört.
Noch kein WM-Fieber
Eine feuchtfröhliche Party in der Wüste passt so gar nicht in das Stimmungsbild Europas im November 2022. An der östlichen Peripherie des Kontinents herrscht Krieg. Der Aggressor ist ausgerechnet jenes Land, das sich dank der Fifa vor vier Jahren der Welt in einem scheinbar guten Licht präsentieren durfte. Auch die Inflation und die Energiekrise drücken auf die Stimmung. Die Lust auf Public Viewing mit Glühwein im Wintermantel anstatt mit Bier im T-Shirt hält sich in Grenzen. Vorfreude auf eine WM-Party? Fehlanzeige.
Aber warum ist der Aufschrei gerade bei Katar so riesig? Die Kritik ist richtig und wichtig, weil die Werte des Landes nicht denjenigen der westlichen Gesellschaft entsprechen. Und Menschenrechte sind universell. Das Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit hilft, dass sich Katar mit diesen Themen und Fragen zumindest auseinandersetzen muss. Allerdings ist es naiv zu glauben, dass temporäre Verbesserungen besonders nachhaltig sind. Russland ist das jüngste Beispiel.
Auch die europäische Wirtschaft profitiert
Die Kritik an Katar hat aber auch etwas Scheinheiliges. Die europäischen Volkswirtschaften profitieren von den Deals mit dem Wüstenstaat. Gerade die Schweiz schert sich selten darum, Ungerechtigkeiten in den Ländern ihrer Handelspartner anzuprangern. Hauptsache, der Franken rollt. Nachhaltigkeit ist auch in Europa ein grosses Problem. Und Vorurteile gegenüber Homosexuellen sind auch bei uns noch immer verbreitet.
Gegen Weltmeisterschaften hat es schon immer Vorbehalte gegeben. Die WM 1934 diente dem Faschismus Mussolinis, die WM 1978 wurde von der argentinischen Militärjunta als Propaganda missbraucht. Auch in Russland wurde die Menschenrechtslage und die eingeschränkte Pressefreiheit kritisiert.
Seit der Fussball und die Fifa unter João Havelange und seinem Generalsekretär Blatter zu einem Milliarden-Business verkommen ist, steht jede WM-Vergabe unter Korruptionsverdacht. Das deutsche Sommermärchen 2006, der Inbegriff der unbeschwerten Fussballparty: gekauft!
Es gibt profanere Gründe, warum die WM-Vergabe als grösster Fehlgriff in die Geschichte eingehen wird. Ein Land, ein Viertel so gross wie die Schweiz und ohne Fussballtradition, hat eine WM nicht verdient. Ein Turnier auf der Arabischen Halbinsel hätte trotz ähnlicher Diskussionen im Vorfeld eher Sinn gemacht und zur Völkerverständigung in der Region beigetragen können. Diese Chance hat die Fifa verpasst.
Die beste WM aller Zeiten?
Trotz der berechtigten Kritik darf man sich auf das Turnier in Katar aber auch freuen. Die Spieler, die grossmehrheitlich in den europäischen Topligen spielen, sind dank der Verlegung in den europäischen Winter in Form. Für einmal wird der Weltmeister nicht am Ende einer kräftezehrenden Saison gekürt, wenn die Mehrzahl der Topspieler ausgelaugt ist.
Katar wird das letzte grosse Rendez-vous einer Generation, die aussergewöhnliche Fussballer hervorgebracht hat: Lionel Messi, Cristiano Ronaldo, Neymar, Karim Benzema, Robert Lewandowski oder Luka Modric. Für sie alle wird die WM in der Wüste zum letzten Hurra.
Auch die Schweiz startet mit grossen Ambitionen in das Turnier. Die U17-Weltmeister von 2009 um Captain Granit Xhaka stehen im Zenit ihres Schaffens. Noch nie haben so viele Schweizer in ausländischen Topklubs eine wichtige Rolle gespielt. Nach dem EM-Coup vor einem Jahr ist der Schweiz trotz der missglückten Hauptprobe gegen Ghana das Gleiche auch in Katar zuzutrauen.
Murat Yakin trainiert die stärkste Nati aller Zeiten. In den nächsten vier Wochen kann sich diese aussergewöhnliche Generation an Schweizer Fussballern in Katar vergolden. An einem Turnier, das womöglich als das sportlich beste in die Geschichte des Fussballs eingehen wird – aber auch als Mahnmal. Dunkle Wolken werden Katar 2022 weiter begleiten. Nun soll der Ball aber endlich rollen.