Die Zahlen sind alarmierend. 2006 gab es in Deutschland noch knapp 80'000 aktive Schiedsrichter. In der vergangenen Spielzeit waren es gemäss dem Magazin «11 Freunde» noch 44'821. Ein Rückgang von fast 50 Prozent! Alleine seit Beginn der Corona-Pandemie haben 8000 Unparteiische die Pfeife an den Nagel gehängt. Auf 7330 Austritte in der Saison 2020/21 kamen nur 1996 neue Schiris hinzu. Die Folge: In den unteren Ligen Deutschlands werden Spiele nicht mehr ausgetragen. Oder es pfeift ein Vereinsmitglied des Heimklubs, was eine neutrale Spielleitung ad absurdum führt.
Tätliche Angriffe in körperlicher und verbaler Form, mangelnder Respekt, keine Lust mehr, verändertes Freizeitverhalten: Die Gründe für den Exodus sind vielseitig. Und sie beschäftigen auch die Schweiz. Eine Schiedsrichterschmelze in der Dimension von Deutschland ist hierzulande zwar noch nicht im Gang – seit Mitte der 90er-Jahre ist die Zahl aktiver Schiris mit rund 4500 stabil, davon rund 100 Frauen. Doch die aktuellste Entwicklung gibt Anlass zur Sorge. Folgte vorher auf einen Rückgang immer wieder ein Anstieg, ist der Trend seit der ersten Corona-Saison 2019/20 negativ: von 4647 auf 4375. Sie mussten in der Saison 2021/22 89 924 Partien leiten.
Oberster Ref Sascha Amhof ist besorgt: «Der Druck steigt»
Sascha Amhof, Leiter Ressort Schiedsrichter beim Schweizerischen Fussballverband (SFV), sagt: «Der Druck steigt, genügend Unparteiische für alle Spiele zu haben.» Obwohl der Schiri-Bestand sich zwar jahrelang die Waage hielt, befindet er sich seit jeher am notwendigen Minimum. 300 Schiris weniger fallen entsprechend stark ins Gewicht. Fakt ist auch: Ohne die Bereitschaft eines Grossteils der Unparteiischen für Mehrfacheinsätze wäre der Systemkollaps Tatsache.
Amhof: «Wir wissen aus verschiedenen Regionen, dass gewisse Schiedsrichter zwei- bis dreimal pro Woche im Einsatz stehen, damit der Spielbetrieb aufrechterhalten werden kann.»
Im Tessin geht es gemäss dem Schweizerischen Schiedsrichterverband schon heute nicht mehr ohne die Hilfe aus dem angrenzenden Italien. Beide Seiten profitieren: Die italienischen Refs kassieren mehr Lohn als in der Heimat, der Tessiner Verband kann bislang alle Spiele durchführen.
Die Mehrfachbelastung ist gemäss einer SonntagsBlick-Umfrage ein grosses Problem. Wie den Hobby-Kickern reicht auch den Hobby-Refs ein Spiel pro Woche: Nicht jeder kann und will ein Urs Meier werden, bei aller Leidenschaft will die Mehrheit nicht die komplette Freizeit für die Schiedsrichterei opfern. Gemäss SFV haben sich infolge von Corona die Rückmeldungen gehäuft, wonach Beruf, Familie und andere Hobbys mit der Schiedsrichterei immer schwieriger vereinbar seien.
Sittenzerfall auf dem Fussballplatz
Die andere Bedrohung für den Schiri-Bestand ist der Sittenzerfall: Die 26 Disziplinarstrafen wegen tätlicher oder verbaler Angriffe auf Unparteiische im Jahr 2021 sind 26 zu viel, verglichen mit der Gesamtzahl der Spiele auf den ersten Blick jedoch marginal. Es ist vielmehr der generell verblassende Anstand gegenüber ihrer Person, wenn sie irgendwo in der Provinz zwischen den Fronten stehen, alleingelassen, der Schiedsrichtern die Freude nimmt. «Seit 23 Jahren bin ich Schiedsrichter. Zuletzt spürte ich vor Spielen keine Vorfreude mehr. Das sind Alarmzeichen, die ich früher nicht für möglich gehalten habe», sagt etwa Marc Hügli (41), Schiri in der Aargauer 2. Liga und in der 2. Liga inter.
Zuständig für die Rekrutierung von Schiedsrichtern sind die Regionalverbände. Die Gefahr, wegen der Schiri- Schmelze bald Spiele absagen zu müssen, ist erkannt, Gegenmassnahmen sind ergriffen. Einige Verbände etwa bieten die Ausbildungskurse in digitaler Form an, überall werben Marketing-Kampagnen für Neueintritte. Dazu laufen Projekte, junge Schiedsrichter enger zu begleiten, damit sie nicht schon zu Beginn der Karriere entnervt hinschmeissen. Ob das reicht? Amhof: «Klubs, Medien und Spieler sind gemeinsam gefragt, den Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern die Wertschätzung zu geben und sie in ihrem Enthusiasmus zu unterstützen.»