Ein Faustschlag ins Gesicht, das Nachtreten am Boden: Der türkische Fussball steht seit der Körperattacke nach einem Süper-Lig-Spiel von Ankaragücü-Präsident Faruk Koca (59) auf den Spitzenschiedsrichter Halil Umut Meler (37) still.
Jemand, der weiss, welche Folgen solche Skandalszenen haben können, ist die Schweizer Schiri-Legende Urs Meier (64). Er selbst wurde bei der EM 2004 in Portugal Opfer von Morddrohungen, stand unter Polizeischutz und musste untertauchen. «Der Fussball ist kein rechtsfreier Raum. Ich hoffe, dass der betroffene Schiedsrichter eine Zivilklage erstattet», sagt er zu Blick.
Die tiefen Wunden, die eine Bedrohung oder sogar Attacke auf einen Schiedsrichter auslösen, gehen weit über den Jochbeinbruch und Bluterguss am Auge hinaus, die bei Ref Halil Meler am Montagabend im Spital diagnostiziert wurden. Urs Meier kann sich in die Lage seines türkischen Kollegen hineinversetzen: «Bei einem solchen Vorfall fühlt man sich wie, wenn bei einem eingebrochen wird. Man verliert das Vertrauen in die Sicherheit im eigenen Haus. Das Urvertrauen ist dann auf einen Schlag weg.»
Gefühlt wurde Meier von halb England gejagt
Nur zu gut weiss er, wie sich Bedrohungen am eigenen Leib als Schiri anfühlen. Er traf am 24. Juni 2004 beim EM-Viertelfinal zwischen Gastgeber Portugal und England den kapitalen, aber richtigen Entscheid, den vermeintlichen Siegtreffer Englands in der 89. Minute nicht anzuerkennen. Die «Three Lions» scheiterten danach im Penaltyschiessen, Meier wurde über Nacht gefühlt Feind eines ganzen Landes.
Er bekam 16'000 Hassnachrichten, darunter viele Morddrohungen, wurde von der englischen Presse übel verunglimpft. Ihm fehlte die Unterstützung der Uefa, drei Tage lang sei einfach nichts passiert. Das ist im aktuellen Fall anders.
Die Schiri-Attacke in der Türkei ist Stunden nach dem Vorfall direkt zur Staatsaffäre geworden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan besuchte Schiri Halil Meler persönlich im Spital. Und der türkische Fussballverband griff durch: bis auf Weiteres keine Fussballspiele im Land. Der Haupttäter, Ankaragücüs Prügel-Präsident Faruk Koca, zeigt sich mittlerweile reuig, hat sich einen Tag danach öffentlich entschuldigt und ist als Klubboss zurückgetreten.
Türken-Skandal ist nur die Spitze des Eisbergs
Doch die üble Attacke auf Meler ist kein Einzelfall. Sie ist wie die Spitze eines Eisbergs, die aus dem Meer von Bedrohungen und Angriffen gegen Unparteiische auf der ganzen Welt ragt. Der 37-jährige Türke ist ein Spitzenschiri. Urs Meier sagt: «Dass jetzt genau der Schiedsrichter Nummer eins der Türkei betroffen ist, macht weltweit einfach das sichtbar, was in unteren Ligen zum Teil schon lange ein Problem ist.»
Etwas ist der Schweizer Schiri-Legende speziell wichtig: Nicht nur die türkischen Verbände können jetzt reagieren und etwas tun. Sondern alle, die Fussball spielen. «Es gibt zum Beispiel Juniorenspiele, bei denen nach dem Schlusspfiff niemand mehr den Schiris die Hand gibt. Dabei wäre es einfach auch einmal wichtig, ihnen Danke zu sagen – für den Dienst, den sie für den Fussball leisten.» Vielleicht wäre das ein Schritt in die Richtung, dass der Respekt Horror-Szenarien wie in der Türkei vom Rasen verdrängt.