Nein, natürlich ist es nicht so, als würde der Krieg nicht mehr stattfinden. Aber Fussball gespielt werden kann dennoch. Die Spielstätten sind so gewählt, dass sie nicht unvermittelt durch den russischen Invasionsversuch behindert werden können. Sie liegen vor allem in der Hauptstadt Kiew und deren Umland sowie im Westen des Landes. Wo die Gefahr unverantwortlich wäre oder die Russen das Land okkupiert haben, wird nicht gespielt.
Zwei Teams der Premjer-Liha, der obersten ukrainischen Liga, mussten überdies ersetzt werden: Desna Tschernihiw und der FC Mariupol, weil deren Stadien zerstört wurden. Mariupol ist ohnehin Besatzungsgebiet, spielt aber wieder in der zweiten Division, mit einem besseren Juniorenteam (Altersschnitt 21 Jahre) und in einem «Stadion» für 500 Zuschauer.
Am 23. August wurde losgelegt. Im Kiewer Olympiastadion mit dem Spiel zwischen Schachtar Donezk, das wegen der russischen Besetzung des Donbass ohnehin seit acht Jahren im Kiewer Exil spielen muss, und Metalist 1925 Charkiw. Es endete mit einem 0:0. Zwischenfallfrei.
Auf der Tribüne war das absehbar, denn die Liga spielt so, wie es zu Beginn der Pandemie der Regelfall war: ohne Fans. Gerade mal 280 sind zugelassen.
Ein Spiel dauerte viereinhalb Stunden
Doch das erste durch den Krieg in seinem Ablauf gestörte Spiel folgte sehr bald. Es war jenes zwischen Ruch Lwiw und Metalist Charkiw am Tag nach der Premiere. Dreimal gabs Alarm. Dreimal mussten die Teams in den Luftschutzbunker, der maximal 500 Meter vom Stadion entfernt sein darf. Insgesamt sassen sie 145 Minuten darin, sodass am Ende fast viereinhalb Stunden von An- bis Schlusspfiff vergingen. Metalist siegte 2:1 und feierte den Sieg mit ganz viel Pizza … symbolisch sehr westlich also.
Macht das Sinn, unter diesen Umständen zu spielen? Ja, findet Thomas Grimm. Der Berner Ex-Präsident der Swiss Football League war zwei Jahre lang auch Boss der ukrainischen Liga. «Auch wenn es natürlich der Horror ist unter diesen Bedingungen mit den Luftschutzkellern – wieder zu spielen ist das einzig Richtige! Der ukrainische Profi-Fussball hätte eine weitere fussballlose halbe Saison nicht überlebt. Und die Nationalmannschaft hätte auf Spieler zurückgreifen müssen, die lediglich trainieren. Und im Ausland wie zum Beispiel in Polen oder der Türkei zu spielen, wie man das zuerst ins Auge gefasst hatte, wäre ein finanziell zu grosser Kraftakt gewesen.»
Präsident Selenski selbst gab grünes Licht
Und es war nicht zuletzt auch Präsident Wolodimir Selenski, der Gedanken ans Ausland verscheuchte. Man habe genügend sichere Stadien im Land ausgemacht, stellte er fest, weshalb der Entschluss gefasst wurde, in einem Land zu spielen, das Kriegsgebet ist. Wie man nun sieht, ging es in der Tat.
Das bestätigt auch Jurij Wernydub. Das ist der Coach, der das Wunder vollbrachte, mit den Moldauern von Sheriff Tiraspol in der Champions League Real Madrid zu bezwingen. Danach folgte er dem Ruf seines Vaterlands, wurde Soldat und zog in den Krieg. Nach vier Monaten nahm er das Jobangebot des FC Krywbas an, des Klubs aus Krywyj Rih, der Geburtsstadt von Präsident Selenski, und kehrte zu seinem angestammten Beruf zurück. «Das Leben muss weitergehen», sagt er. «Wir müssen zeigen, dass wir noch leben. Nun kann ich den Dienst bei den Streitkräften und den Job als Trainer verbinden. Es klappt alles.»
Bislang störungsfrei, ausser einem Stromausfall
Zurück zu Grimm. Dieser hat nach wie vor nahen Kontakt zum ukrainischen Fussball. Weshalb er auch weiss, dass es – natürlich – auch um viel Geld ging. «Der TV-Vertrag mit dem Medienhaus Setanta Sports bringt sechzehn Millionen Euro über drei Jahre ein. Das ist sehr viel für die Liga.»
Der Ball rollt mittlerweile ziemlich störungsfrei. Ziemlich. Die Übertragung des Spiels Vorskla Poltava gegen Oleksandria war bei Halbzeit beendet. Das Stromnetz im Minai-Stadion war instabil, und der Neustart dauerte derart lange, dass das Spiel beendet war, bevor die Mattscheibenzeit vorbei war. Flutlicht brauchte man ja keines. Die Spiele finden alle am helllichten Tag statt, jenes zum Beispiel um 13 Uhr.
Ex-YB-Spieler Taulant Seferi mittendrin
Und ein in der Schweiz alter Bekannter war mittendrin – als einer der wenigen Söldner, die im Land geblieben sind. Nach Ausbruch des Kriegs durften alle Profis sowohl Russland als auch die Ukraine ablösefrei verlassen. Die Rede ist von Taulant Seferi, der 2015 als Riesentalent von Rabotnicki Skopje zu YB kam. Doch wegen vieler Verletzungen kam er nur zu neun Teileinsätzen für YB und verdingte sich danach für Wohlen, Winterthur und Xamax, bevor er zurück in seine albanische Heimat ging. Und Seferi spielt nicht etwa deshalb in der Ukraine, weil er dort bereits unter Vertrag war. Nein, der 25-Jährige wechselte am Tag vor der Wiederaufnahme des ukrainischen Championats doch tatsächlich von KF Tirana zu Vorskla – und ist dort gleich Stammspieler. Nun postet der zehnfache albanische Nationalspieler auf Instagram erstmals ein Foto im Dress von Vorskla: «Together we are strong». So strong aber auch nicht. Vorskla ist mit einem Punkt aus vier Spielen Tabellenletzter.
Seferis Trainer ist übrigens Ex-Werder-Bremen-Coach Viktor Skripnik, der bei Kriegsbeginn Trainer von Sorja Luhansk war, dort aber fliehen musste, weil Luhansk Kriegsgebiet wurde. Nun ist er in seine Heimat zurückgekehrt. Auch das ein starkes Zeichen. Wie so viele in dieser verwegenen und historischen Meisterschaft.