Sonne. Stahlblauer Himmel. Kein Wind und angenehme 12 Grad. Es ist ein milder Wintertag, als Blick die Familie Reuteler am Freitagmorgen zum Sightseeing in Dunedin trifft. Mutter Evelyne (59) sowie die Zwillingsbrüder Thierry und Maurice (beide 22) haben sich vor knapp zwei Wochen aus Stans NW auf den Weg ans andere Ende der Welt gemacht, um hautnah dabei zu sein, wenn Géraldine Reuteler und die Nati in Neuseeland und Australien um Ruhm und Ehre spielen. Auch Vater Andreas Stocker (62) weilt in Neuseeland. Nicht mit dabei sind die beiden älteren Brüder Jöel (29) und Julien (27).
Stop 1: Forsyth Barr Stadium
Erster Halt ist das Forsyth Barr Stadium in Dunedin. Dort findet am Sonntag das letzte Spiel der Vorrunde gegen Gastgeber Neuseeland statt. Die Nati erwartet ein Hexenkessel. Das überdachte Stadion wird mit gut 25'000 Zuschauern ausverkauft sein. Die Reutelers sind optimistisch. «Wir werden Gruppensieger», sagt Mutter Evelyne. Dass die Schweiz ihr Startspiel gegen die Philippinen in diesem Stadion gewonnen und ihre Tochter eine starke Leistung gezeigt hat, ist ein gutes Omen.
2017 gibt Géraldine Reuteler ihr Debüt in der Nati, seither sind die Reutelers mit dabei, wo immer es geht. Sowohl an der EM 2017 in Holland als auch 2022 in England unterstützen sie die Nati vor Ort. Auch an jedem Heimspiel sitzen sie im Stadion. Nun haben sie für den Besuch der WM gleich eine knapp fünfwöchige Reise geplant. Beim Hinflug machen sie zwei Tage halt in Singapur, ihr Aufenthalt in Dunedin wird durch den Kurztrip nach Hamilton für das Spiel gegen Norwegen unterbrochen.
Nächste Woche geht es weiter nach Auckland, wo die Familie zwei Wochen ein Airbnb gemietet hat. Der Besuch des Hobbit-Dorfs sowie von Geysiren und Thermalquellen stehen auf der To-Do-Liste, das Programm hängt aber auch davon ab, ob die Nati ihren allfälligen Achtelfinal in Auckland oder Wellington bestreitet. Gut 10’000 Franken kostet die gesamte Reise pro Person, eine Stange Geld. Mutter Evelyne begann deswegen schon vor zwei Jahren mit dem sparen, die Zwillingsbrüder erhalten von ihrer Schwester und ihrem Vater einen kleinen Zustupf, um sich das Ganze leisten zu können.
Stop 2: Baldwin Street
Die Tour geht weiter. Nächster Stop ist die Baldwin Street etwas ausserhalb des Stadtzentrums. Die 350 Meter lange Strasse gilt mit bis zu 35 Prozent Steigung als die steilste der Welt. Kein Problem für Maurice Reuteler. Er jongliert den Fussball trotz enormer Steilheit gekonnt auf- und abwärts. Der gelernte Logistiker, der bei den Titlis-Bahnen arbeitet, war in der Jugend ebenfalls ein talentierter Fussballer. Beim FC Luzern ist er in der U14 Teamkollege von Darian Males. Zu einer Profi-Karriere reicht es ihm aber nicht. Heute spielt er beim FC Stans zum Plausch noch in der 4. Liga.
Er ist der ruhigere der beiden Brüder und tauscht sich mit seiner älteren Schwester regelmässig über alltägliche Dinge aus. «Oft rede ich mit ihr auch über Frauen und Beziehungen.» Als ihm der Ball beim Jonglieren runterfällt, nimmt dieser so richtig Fahrt auf. Zweihundert Meter weiter unten wird er von anderen Touristen gestoppt. Zeit, um aufzubrechen.
Stop 3: Signal Hill
Von der Baldwin Street geht es zum Signal Hill. Ein Hügel knapp 400 Meter über Meer mit herrlicher Aussicht auf die Stadt, die Strände und die Otago Peninsula, die Hauptattraktion der Region. Mutter Evelyne, die ihre Kinder alleine grossgezogen hat, erzählt Anekdoten von früher. «Ich habe vier Buben, aber Géraldine war der schlimmste Bub.»
Wie ihre Brüder sei auch sie ein «Luusmeitli» gewesen. «Einmal klingelte es an der Türe. Der Polizist brachte Géri, die er für einen Knaben hielt, zurück, weil sie ohne Licht am Velo in der Dunkelheit vom Training nach Hause gefahren war.» Einmal versucht sich ihre Tochter mit dem Skateboard auf der Rutschbahn, was im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten losgeht. Als Evelyne am Abend davon erfährt, holt sie ihre Tochter schnurstracks vom Training ab und fährt sie ins Spital. Die Diagnose lautet: Hirnerschütterung.
Géraldines liebstes Spielzeug ist aber der Ball. Schon als kleines Mädchen rennt sie diesem nach. Den Versuch, ihre Tochter ins Ballett zu schicken, bricht die Mutter schnell ab. Géraldine will Fussball spielen. Im Garten schenken sich die kickenden Kinder nichts. Aber erst, als an einem Probetraining des Fussballclubs andere Eltern auf sie zukommen und von den Fähigkeiten ihrer Tochter schwärmen, realisiert die Mutter, dass diese Talent hat.
Der Fussball spielt fortan eine immer grössere Rolle im Leben der Reutelers. Er ist aber nicht nur Segen, sondern auch Fluch. Als Géraldine 12 ist, und es darum geht, ob sie Aufnahme ins Ausbildungszentrum in Huttwil findet, hoffen Mutter und Tochter insgeheim, dass sie nicht aufgenommen wird.
Doch sie ist zu gut, um übergangen zu werden. Mutter und Tochter weinen. Géraldine wagt den Schritt trotzdem und die Karriere nimmt ihren Lauf, auch wenn das erste halbe Jahr sehr schwierig ist. Ob die Mutter heute noch einmal gleich entscheiden würde, weiss sie nicht. «Spitzensportler, egal in welcher Sportart, zahlen einen hohen Preis.»
Stop 4: Lawyers Head Beach
Rund um Dunedin geht die Fahrt weiter zum Lawyers Head Beach. Dieser Strand liegt in Gehdistanz vom Tahuna Park, dem Trainingscamp der Nati. Das 10 Grad kalte Wasser lädt nicht zum Schwimmen ein. «Ich bin eher ein Warmduscher», sagt Thierry Reuteler mit einem Lachen. Dafür klettert er auf den aus dem Wasser ragenden Felsen herum. Obwohl die Flut kommt, schafft er es noch rechtzeitig, ohne nasse Füsse wieder an den Strand zu kommen.
Thierry, der kommunikativere der beiden Brüder, konnte sich selbst niemals für den Fussball begeistern, trotzdem hat er ein sehr gutes Verhältnis mit Géri. «Sie ist eine tolle Schwester, war sie doch schon immer unsere Beschützerin. Auch in der Schule hat sie auf uns aufgepasst. Dank ihrer fussballerischen Fähigkeiten und ihrer Kraft konnte sie sich auch gegen die Buben wehren», sagt er.
Gelernt hat Thierry Gipser, nun muss er sich aus gesundheitlichen Gründen umschulen lassen. Die Ausbildung zum technischen Kaufmann schwebt ihm vor, zudem interessiert ihn das Thema Kryptowährungen, weswegen er sich selbständig gemacht hat. Hat seine Schwester auch Macken? «Wir alle in der Familie sind etwas stur», sagt er nach langem Überlegen. Géri sei ein sehr sozialer Mensch. «Dadurch vergisst sie manchmal sich selbst ein wenig.»
Stop 5: First Church in Dunedin
Die Flut steigt und steigt, Zeit um weiterzufahren. Letzter Schauplatz ist die First Church im Zentrum von Dunedin. Sie ist 56 Meter hoch, wurde 1873 nach fünfjähriger Bauzeit eröffnet und zwei Jahre später fertiggestellt. Die Reutelers sind protestantisch, trotzdem bekreuzigt sich Géraldine immer, wenn sie den Platz betritt.
Mutter Evelyne kennt auch die Schattenseiten des Lebens als Fussball-Profi. Als sich Géraldine 2021 einen Kreuzbandriss zuzieht, nimmt das Interesse an ihrer Tochter im Fussball-Umfeld schnell ab. «Dann interssiert sich kein Schwein mehr für dich», sagt Evelyne, die als Projektassistentin bei den Pilatus-Werken arbeitet. Mindestens einmal pro Monat reist sie nach Frankfurt, um ihre Tocher zu besuchen. Diese hat inzwischen eine eigene Wohnung etwas ausserhalb der Stadt.
Die First Church befindet sich in der Nähe des Octagons, des Zentrums von Dunedin. Hier in der Nähe treffen sich die Reutelers oft mit ihrer Tochter, wenn die Spielerinnen frei haben, was meistens am Tag nach dem Spiel der Fall ist. Dann gehen sie zusammen Kaffee trinken oder geniessen einfach die gemeinsame Zeit. Zusammen mit den Nati-Spielerinnen besuchen sie auch das Spiel Holland gegen Portugal. Die Fahrt zurück im Mannschaftsbus wird ihnen aber untersagt. Zuviel Nähe ist der Fifa und dem SFV dann doch nicht genehm.
Neben den Reutelers gibt es nur wenige Angehörige der Nati-Stars, welche die weite Reise nach Down Under auf sich genommen haben. Für Eyelyne, Maurice und Thierry ist allerdings kein Weg zu weit, um Géraldine zu unterstützen. Diese weiss das zu schätzen. «Es ist mega cool, dass sie diese Riesenreise auf sich nehmen, das ist nicht selbstverständlich.» Die Nähe zu ihrer Familie ist ihr wichtig. «Nach dem Spiel von ihnen in den Arm genommen zu werden, ist mega schön.» Dies wird auch heute Sonntag passieren – egal wie das Resultat gegen Neuseeland ausfällt.