Das Stadion an der Alten Försterei im Berliner Osten ist das drittkleinste der Bundesliga, aber die 17'284 Zuschauer machen es zu einem Hexenkessel: Pausenlos ertönen Sprechchöre, Fangesänge, rhythmisches Klatschen, selbst die Ordner in ihren orangen Westen machen mit. Jedes der drei Berliner Tore wird bejubelt wie im Champions-League-Finale, dabei ist es nur ein Testspiel, das erste der neuen Saison, gegen Rapid Wien.
Fünf Stunden zuvor empfängt Urs Fischer in einem nüchternen Sekretariatszimmer unter der Haupttribüne zwischen leeren Mineralwasserflaschen und defekter Kaffeemaschine. Ein kleiner Tisch, vier abgewetzte Fauteuils müssen reichen; die eigentlichen Besprechungszimmer werden gerade umgebaut. Als man ihm am Ende wünscht: «Viel Erfolg heute Abend, auch wenn es um nichts geht», widerspricht er energisch: «Es geht immer um etwas!»
Urs Fischer, Sie leben seit fünf Jahren in Berlin. Haben Sie jetzt endlich Ihre Bilder aufgehängt?
Nein, sie stehen weiterhin nur an der Wand. Habe ich in Thun nicht gemacht, habe ich in Basel nicht gemacht, mache ich auch hier nicht.
Weil das Trainergeschäft so kurzlebig ist, dass man jeden Spieltag gefeuert werden kann?
Man weiss, dass das so ist. Aber das ist nicht der Grund. Daheim muss es zweckmässig sein, damit ich mich wohlfühle. Wäre die Familie da, wäre es etwas anderes.
Union Berlin gilt als sehr besonderer Verein. Über ein Viertel der Fans sind Mitglied, mehr als bei jedem anderen Club, sie haben sogar beim Stadionausbau mitgeholfen. Die eigene Mannschaft wird nie ausgepfiffen, kein Spieler wird für Fehler verantwortlich gemacht, und kein Zuschauer verlässt das Stadion vor dem Abpfiff. Wie ist diese aussergewöhnliche Fanliebe erklärlich?
Die Fans haben über viele Jahre eine Achterbahnfahrt mit dem Club erlebt: mal erfolgreicher, dann wieder Abstieg, sogar kurz vor der Insolvenz. So was schweisst zusammen. Ausserdem gibt es viele Aktionen neben dem Fussball: Weihnachtssingen, Blutspenden, Wohltätigkeit.
Wussten Sie vor Ihrem Wechsel, worauf Sie sich einlassen?
Man weiss nie, worauf man sich einlässt. Man hat vielleicht eine Ahnung, gerade mit der Erfahrung, aber man weiss es erst mit der täglichen Arbeit. Auch wenn man sich zuvor im Internet schlaugemacht hat.
Der Club ist dezidiert Ostberlin: «Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?», heisst es in der Vereinshymne. Jetzt spielen Sie Champions League im Olympiastadion von Erzrivale Hertha BSC. Wie passt das zusammen?
Am Schluss musste die Vereinsführung diesen Entscheid fällen, und ich finde ihn vernünftig. Es ging in den Diskussionen kein einziges Mal um Geld, sondern immer nur darum: Wie können möglichst viele von unseren knapp 57'000 Mitgliedern die Champions League erleben? Das ist etwas Historisches für diesen Club. In unserem Stadion hätten wir pro Partie ja nur 15'000 Tickets an unsere Fans abgeben können. Und dann hat die Uefa ja auch noch gewisse Anforderungen an das Stadion. Ich weiss gar nicht, ob wir die hier erfüllen.
Was ging Ihnen am letzten Spieltag nach Abpfiff durch den Kopf, als die Champions-League-Teilnahme feststand?
Ich wusste dann, wir spielen Champions League. Aber habe ich das realisiert? Nein. Auch in den Ferien danach nicht. Erst später, als ich die Monatspläne für die neue Saison gemacht und im Kalender jeweils am Dienstag und Mittwoch «CL» eingetragen habe. Denn Conference und Europa League, die wir bislang gespielt hatten, sind ja immer donnerstags.
Durch die Champions League wird der Club so viel verdienen wie noch nie. Was ändert sich für Sie?
Der Verein investiert in die Infrastruktur. Es gibt ein neues Trainingsgelände, das Stadion soll vergrössert werden, es gibt neue Räumlichkeiten. Aber für mich ändert sich hoffentlich nicht viel. Wir dürfen nicht nachlässig oder bequem werden. Wir dürfen uns nichts einbilden auf das, was wir erreicht haben. Denn im Erfolg macht man die grössten Fehler. Jetzt müssen wir den Erfolg bestätigen.
PSG hat 1,6 Milliarden Dollar investiert und trotzdem die Champions League nie gewonnen. Manchester City hat zwei Milliarden investiert und die Champions League schlussendlich gewonnen. Schiesst Geld nun Tore oder nicht?
Ich denke, es hat mehr mit dem Trainer zu tun: Formt er das Team zu einer Einheit? Ich kann es nur von aussen beurteilen, und da scheint es Pep Guardiola besser gelungen zu sein als den wechselnden PSG-Trainern. Und es hat weniger mit Toreschiessen zu tun als mit Torevermeiden: Wie ist man hinten organisiert, steht man kompakt, arbeitet man gegen den Ball?
Sie haben mit dem neuntwertvollsten Kader der Liga Platz 4 geschafft.
Es gilt das, was zur Verfügung steht, richtig einzusetzen. Das gilt aber auch, wenn man zwei Milliarden zur Verfügung hat.
Die Clubs der englischen Premier League kassieren die mit Abstand höchsten TV-Einnahmen. Damit kaufen sie die teuersten Spieler und zahlen die höchsten Gehälter. Als Ergebnis stammen sechs der zehn letzten Finalisten der Champions League aus England. Zerstört die Premier League den europäischen Fussball?
«Zerstört» ist für mich zu hart. Sie haben einen Vorteil. Das heisst, die anderen müssen sich noch mehr anstrengen. Aber es ist ja auch manchmal ganz eng, da entscheiden Kleinigkeiten.
Droht der Bundesliga der Ausverkauf? Erling Haaland war so ein Fall: Im Wettbieten gegen Manchester City hatte selbst Bayern München keine Chance.
Das wäre mir zu einfach. Für den Spieler ist nicht nur entscheidend, was er Ende Monat aufs Konto überwiesen bekommt. Entscheidend ist, ob ihm das Gesamtpaket zusagt: Was hat der Trainer mit mir vor, mit welchem System wird gespielt, ist es die richtige Stadt, was sagt die Familie? Aber logisch, es gilt zu verhindern, dass die Schere noch weiter auseinandergeht.
Was ist Ihre Führungsphilosophie?
Authentisch zu sein. Das ist eine Grundregel. Und zweitens: vorzuleben, was ich von meinen Jungs erwarte.
Das heisst, Sie machen jedes Konditionstraining mit?
Nein. Aber ich verlange von meiner Mannschaft, immer das Maximum zu geben. Das erwarte ich dann auch von mir, wenn ich meine Sachen erledige. Auch ich versuche, mich am Limit zu bewegen.
Wie motiviert man ein Team von jungen, berühmten, reichen Fussballsöldnern jeden Tag aufs Neue, sich am Limit zu bewegen?
Motivieren ist nicht meine Aufgabe. Ich erwarte, dass ein Spieler, der das Glück hat, in der ersten Liga zu spielen, von Haus aus die Einstellung mitbringt, sich am Limit bewegen zu wollen. Der durfte sein Hobby zum Beruf machen – das habe ich selber auch erlebt, und es gibt nichts Schöneres! Wenn dahinter nicht eine Begeisterung steht, eine Leidenschaft, dann hilft auch das Motivieren durch den Trainer nicht. Natürlich muss man die Spieler zwischendurch auch mal ein bisschen kitzeln. Aber motivieren? Hoffentlich nicht!
Sie sind der Boss, gleichzeitig gelten Sie als sehr nahbar. Wie gehen Sie mit dem Widerspruch von Autorität und Nähe um?
Man versucht, die richtige Distanz zu halten. Das ist manchmal eine Gratwanderung. Man braucht eine gewisse Nähe zu den Spielern, damit sie spüren, man kann mit dem Trainer reden. Aber es gilt halt auch: Am Schluss habe ich das letzte Wort und muss entscheiden. Ich mache jedes Wochenende elf Spieler glücklich, die stehen in der Startelf. Neun stelle ich noch so gerade zufrieden, die sind auf der Bank. Und neun verärgere ich, die sind nicht im Kader.
Wie gehen Sie mit Diven um?
Die sind manchmal viel einfacher zu führen, als man denkt. Vielleicht gibt man einer Diva im Training eine etwas längere Leine. Aber das muss sie sich erarbeiten und am Wochenende liefern. Es ist ein Geben und Nehmen. Geschenkt bekommt man von mir nichts.
Behandeln Sie alle gleich, den Star wie den Neuling?
Natürlich. Die Regeln gelten für alle. Wenn um neun Uhr Sitzung ist, ist um neun Uhr Sitzung. Und wer um fünf nach neun kommt, zahlt Busse.
Wie sieht Ihr Bussenreglement aus?
Weiss ich nicht. Das ist Sache der Jungs. Wir kontrollieren auch nicht. Das macht die Mannschaft.
Haben Sie das überall so gehandhabt?
Am Anfang meiner Trainerkarriere war ich eher der Kontrolleur, aber ich habe dann gemerkt, das bringt eigentlich nichts. Das macht die Mannschaft besser selber. Aber sie muss es konsequent machen. Die Bussen gehen alle in die Mannschaftskasse, die Jungs machen dann einen Ausflug damit oder was auch immer.
Jede Saison kommen und gehen bei Union Berlin rund ein Dutzend Spieler. Was können Manager von Ihnen zum Thema Onboarding lernen?
Unser oberstes Prinzip bei Union: Der Spieler muss sich ab dem ersten Moment wohlfühlen. Deshalb versucht der ganze Club, den Neuzugängen so viel wie möglich abzunehmen: Auto anmelden, Führerschein umschreiben, Wohnung organisieren … Und das schnellstmöglich, damit der Spieler gleich fühlt: Ich bin angekommen. Am besten gleich nach dem ersten Training! Ich weiss, wovon ich rede: Ich habe hier drei Monate im Hotel gelebt, bevor ich eine Wohnung hatte. Das waren die schlimmsten drei Monate meines Lebens. Wenn man nach dem Arbeiten ins Hotel gehen muss, ist man nicht daheim, da fühlt man sich schlecht. Es macht so viel aus, wenn man seine eigenen vier Wände hat, das eigene Sofa, den eigenen Fernseher, die eigenen Pfannen, in denen man auch mal was kocht.
Und dann gilt es natürlich, dem Spieler schnellstmöglich die Prinzipien auf dem Platz zu vermitteln. Das bedeutet Aufwand: Da ist das Trainerteam gefragt, es muss unermüdlich mit dem Spieler reden, erklären, Analysevideos machen, korrigieren etc. Also arbeiten, arbeiten, arbeiten. Die Mannschaft ist auch fantastisch, nimmt neue Spieler super auf. Die haben gleich das Gefühl, ein Teil des Teams zu sein, das macht viel aus. Auch wenn sich ein Spieler bei einem fremden Club nie ganz daheim fühlt. Weil das Daheim ist daheim. In meinem Fall Zürich, wo die Familie lebt.
Wie oft sind Sie daheim?
Alle drei, vier Wochen. Aber das hängt von den internationalen Spielen ab, es kann auch mal sechs, sieben Wochen dauern.
Derzeit läuft die Frauenfussball-WM. Schauen Sie die? Ihre Tochter spielte ja lange beim FCZ.
Ja, das ist für mich interessanter Fussball auf technisch und taktisch hohem Niveau. Und der physische Aufwand entspricht dem der Männer. Das Theatralische, das bei den Männern manchmal zu viel ist, kennt man bei den Frauen nicht. Da könnten wir uns manchmal eine Scheibe abschneiden.
Wann wird der Frauenfussball wirtschaftlich so wichtig sein wie jener der Männer?
Ich finde es schön, dass Frauen jetzt langsam auch entsprechend entschädigt werden für das, was sie im Fussball leisten – nicht nur finanziell, sondern auch medial. Es ist Zeit. Auch Union hat eine neue Struktur geschaffen und bei der Frauenmannschaft auf Profifussball umgestellt. Meine Tochter musste 100 Prozent arbeiten, daneben vier-, fünfmal die Woche trainieren und am Wochenende spielen. Und zuvor als einziges Mädchen in einer Bubenmannschaft musste sie sich auf der Toilette umziehen, duschen konnte sie erst daheim, weil die Infrastruktur fehlte. Da sind wir heute viel weiter. Aber bis Frauenfussball auch wirtschaftlich gleichzieht, dauert es noch. Das geht nicht von heute auf morgen.
Was trauen Sie den Schweizer Männern bei der EM nächstes Jahr zu?
Wir sind immer nah dran. Jetzt gilt es mal, die Barriere Achtelfinale zu durchbrechen. Und wenn es nur mit Hängen und Würgen ist. Aber die Qualität haben wir, eine talentierte Mannschaft mit einem sehr guten Trainer.
Welche Trainerstation würde Sie noch reizen?
(Lacht.) Meine Arbeit ist hier. Sie macht mir Spass, das ist das Entscheidende. Ich will hier weiterhin erfolgreiche Arbeit abliefern. Und was dann kommt, wird sich ergeben. Meinen bisherigen Werdegang als Trainer jedenfalls hätte ich nie so voraussagen können. Unmöglich!
Wenn Murat Yakin an der Euro nächstes Jahr in der Gruppenphase scheitern und die ganze Schweiz nach Ihnen rufen würde: Würden Sie kommen?
Ich liebe das tägliche Geschäft, ich muss jeden Tag auf dem Platz stehen. Das ist mit der Nati nicht zu machen. Das ist Stand heute. Aber: Sag niemals nie.