Es ist fast wie ein Transfer eines aktiven Fussballers, als Pires (47) Anfang Jahr vom Bezahlsender Canal+ zu M6 wechselt. Aber nur fast. «Es gab keinen Transfer», präzisiert der Weltmeister von 1998 lachend, als er in seinem Londoner Hotel eintrifft. «Ich arbeite als einziger Experte für beide Sender. Im Fussball ginge das nicht …»
Pires ist begehrt. Seine Analysen, die er immer glasklar, messerscharf und ohne einen Hauch Überheblichkeit rüberbringt, sind gefragt. Für ihn musste beim Sender M6 mit Jean-Marc Ferreri ein Europameister von 1984 weichen.
Die Europameisterschaft, die ihn nun zuerst ins Wembley und danach gleich nach Sevilla führt, erachtet er bisher als äusserst positiv. «Die Teams engagieren sich, um nach vorne zu spielen, Tore zu schiessen. Italien und Deutschland sind in diesem Sog zu Mitfavoriten aufgestiegen.» Aufs Level Frankreich? «Sie wissen doch, wo ich uns situiere. Unter den Topfavoriten.» Logo. Müsste man aber nicht gar einen Schritt weitergehen und sagen: Eigentlich ist dieses Frankreich mit diesem Wahnsinnskader nicht zu schlagen?
Beeindruckende Zahlen von Frankreich
Schon gar nicht von der Schweiz. Den letzten helvetischen Sieg gabs 1992. Da wurde noch mit französischen Francs bezahlt. Seit sieben Spielen hat die Equipe Tricolore gegen die Jungs mit dem weissen Kreuz auf der Brust nicht mehr verloren. An einer Endrunde haben die Eidgenossen in vier Begegnungen noch gar nie gewonnen. La France hat von seinen 17 letzten Spielen an Endrunden nur ein einziges verloren: den Final an der Euro 2016 gegen Portugal. Der Weltmeister ist seit über zwei Jahren in Pflichtspielen unbesiegt.
Ganz viele statistische Gründe für ein bisschen Überheblichkeit …
«Pff … Ich respektiere alle Gegner», sagt Pires. «Doch den Respekt muss man dann auch auf den Platz bringen. Auch gegenüber der Schweiz.» Und doch: Frankreich, der Weltmeister, der neu (wieder) mit einem der fünf besten Stürmer der Welt spielt – Weltmeister war man ja ohne ein einziges Tor von Stossstürmer Olivier Giroud geworden, ja ohne einen einzigen Schuss aufs Tor von ihm –, das ist ein anderes Level. «Wir wissen, wozu Karim Benzema fähig ist», sagt Pires. Die beiden Tore gegen Portugal sind im perfekten Moment gekommen. In den K.-o.-Duellen werden wir ihn brauchen.»
Man müsse die Schweiz ernst nehmen
Auch bei Pires schwingt unterschwellig mit: Frankreich kann sich nur selber schlagen. Die Gefahr, dass man einen Kleinen nicht ganz so seriös nimmt, ist doch deshalb latent da. Das weiss keiner besser als ein ehemaliger Weltklassespieler. Fussballer denken so. «Sie ist da, ja», sagt Pires ohne Umschweife. «Und wissen Sie, warum ich das so direkt sagen kann? Weil ich genau weiss, dass Deschamps den Spielern dieses Denken austreiben wird. Denn es wäre äusserst gefährlich, die Schweiz zu unterschätzen», so Pires in seiner Exklusiv-Analyse für SonntagsBlick.
Und weiter: «Das ist eine sehr strukturierte und athletisch starke Mannschaft, die hinten dank Akanji enorm solid ist. Und vorne? Vorne aufgepasst! Die Schweiz ist in der Lage, Frankreich zu beunruhigen. Ich hoffe es natürlich nicht. Aber sie hat das Zeugs dazu.»
Gleichgewicht sei wichtig
Wegen Shaqiri? Pires: «Auch. Aber vor allem wegen Breel Embolo mit seinem Speed. Ich mag ihn sehr.» Die Schweiz gehört zu jenen Teams, die das Heft an sich reissen wollen, spielen wollen, was Pires so gut gefällt. Wäre das gegen Frankreich nicht Harakiri? «Die Stärke von Frankreich ist der Angriff und das Tempo. Das kann also schon sehr gefährlich werden. Da wird sich die Schweiz ein bisschen anpassen müssen», denkt Pires.
So wie gegen Italien? Das ging ja mächtig in die Hosen! «Vielleicht sagt sich Petkovic deshalb auch: Wir spielen wie immer, weil wir vorne ein Trio haben, das den Franzosen wehtun kann. Wenn wir nicht offensiv spielen, kommen die drei nicht zur Geltung. Harakiri wäre das dennoch nicht. Wenn die Schweiz so spielen will und spielt, dann deshalb, weil sie es kann und weil das ihre Stärke ist. Wichtig ist das Gleichgewicht. Da wird es auf Xhaka und Freuler draufkommen. Das zentrale Mittelfeld wird entscheidend sein.»
Die Show neben dem Platz
Der Platz ist das eine, das Wichtigste. Und dann gibts da noch die Nebenschauplätze. Boliden, Tattoos, Frisuren. Dass Dinge abseits des Rasens für starke sportliche Leistungen nicht zwingend hinderlich sein müssen, weiss niemand besser als der geneigte Franzose. 2006 spielte sich die Grande Nation bis in den WM-Final. Trotz Intrigen ohne Ende.
«Es ist ganz einfach», sagt Pires. «Solange man gewinnt, ist das alles völlig egal. Das wird erst dann zum Thema, wenn man verliert.» Und wenn man wieder gewinnt, wie die Schweiz gegen die Türkei, spielen die Spieler das übliche Spiel mit dem Zeigefinger auf dem Mund. «Klar doch. Aber man mag sich eigentlich, Fussballer auf der einen, Presse und Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Was sich liebt, das neckt sich.»
Dennoch ist für Pires klar: «Wenn es schädlich ist für die Gruppe, darf so etwas während des Turniers nicht vorkommen. Deschamps hätte einen Coiffeurbesuch wegen der Bubble niemals zugelassen. Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen: Ich habe meinen alten Kumpel Olivier Giroud gefragt, ob ich im Hotel vorbeischauen dürfe, als das Team in München war. Er sagte: Nein, bei uns darf niemand rein!»
Verletzungen könnten Frankreich stoppen
Ein Vorteil von Frankreich gegenüber der Mitkonkurrenz ist auch, dass Deschamps keine Findungsphase brauchte, um eine Stammelf herauszukristallisieren. Der Sélectionneur hatte sie schon vor der WM gefunden: Lloris; Pavard, Varane, Kimpembe, Hernandez; Rabiot, Kanté, Pogba; Griezmann, Benzema, Mbappé. Pires: «Im Normalfall laufen diese elf gegen die Schweiz ein. Didier hatte immer eine klare Hierarchie in der Mannschaft. Daran hält er fest.»
Einzig Verletzungen bereiten Deschamps Kopfschmerzen. Vor allem, weil mit Hernandez und Digne beide Linksverteidiger ausfallen. Da wird er einen anderen umfunktionieren müssen. Oder mit einer Dreierabwehr agieren lassen.
Und die Pires-Prognose? «2:1 für Frankreich. Es wird ein hartes Stück Arbeit werden, auch weil mit Yann Sommer ein hervorragender Goalie zwischen den Pfosten steht. Aber in den Achtelfinals ist Endstation für euch. Tut mir leid für meine Schweizer Freunde …»