Philipp Lahm vor dem EM-Start
«Die Schweiz kann für Deutschland gefährlich werden»

«Die Euro soll viel mehr werden als ein Sommermärchen», sagt Turnierdirektor Philipp Lahm. Die Nachhaltigkeit ist für ihn ein wichtiger Programmpunkt. Genauso wie ein Zeichen gegen den Krieg in Europa zu setzen. Der Schweiz traut er die grosse Überraschung zu.
Publiziert: 14.06.2024 um 11:01 Uhr
|
Aktualisiert: 14.06.2024 um 13:35 Uhr
1/6
Philipp Lahm ist Turnierdirektor für die EM in Deutschland.
Foto: DUKAS
Raimund Hinko
Schweizer Illustrierte

Herr Lahm, die Fussball-Europameisterschaft von Mitte Juni bis Mitte Juli ist viel mehr als nur ein riesengrosses Turnier. Sie als OK-Chef tragen die Verantwortung weit über den Fussball hinaus. «United by Football. Vereint im Herzen Europas», so lautet der Slogan dieser EM. Doch in Europa herrscht Krieg. Kann dieses Turnier ein Zeichen setzen?
Philipp Lahm:
Bei all diesen grossen Problemen ist es entscheidend, Zusammenhalt und Solidarität zu stärken. Einzutreten für ein freies, demokratisches Europa. Einfach gesagt: Wir wollen ein Fest feiern, das Europa und Deutschland stärkt, das den Zusammenhalt der Gesellschaft fördert. Das ist wichtig in diesen Zeiten.

Die Euro soll nicht nur den Krieg überstrahlen. «Sie soll einen Kontrapunkt setzen zur jüngsten, umstrittenen WM in Katar», liessen Sie in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur dpa verlauten. Wie kann das konkret aussehen?
Die Euro kann auf vielfältige Weise zur Demokratisierung beitragen. Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten können gemeinsam ihre Leidenschaft für diesen Sport teilen. Sie können zeigen, wie eine vielfältige Gesellschaft harmonisch zusammenleben kann. Es ist einfach wichtig, dass man sich begegnet. Darüber hinaus bieten Sportvereine Möglichkeiten für demokratische Teilhabe und Engagement auf lokaler und nationaler Ebene. Mit der Förderung von Fairplay, Inklusion und Teamwork trägt der Fussball dazu bei, das Gemeinwohl zu fördern. Ein Grossereignis wie die Euro muss auf dieses Konto einzahlen. Das macht mich glücklich, macht mich sehr zufrieden.

Welche Stimmung erwarten Sie in Deutschland? Lebt König Fussball noch, können wir uns auf das Turnier freuen?
Man sieht, dass in Deutschland etwas in Bewegung gekommen ist. Es war schon bei den European Championships 2022 in München sichtbar, wie sehr die Menschen darauf drängen, rauszugehen, sich zu treffen und sportliche Grossereignisse zu unterstützen. Auch bei der Handball-Europameisterschaft herrschte Aufbruchstimmung. Die Menschen wollen friedlich demonstrieren, wollen zeigen, wie wir leben können. Deshalb bin ich optimistisch, dass wir die Euro dazu nutzen, sich zu begegnen, sich kennenzulernen und ein Fest zu feiern. Zu zeigen, wie Europa feiern kann. Welche Stärken in uns schlummern.

Was hat sich denn in Deutschland seit dem unvergesslichen Sommermärchen 2006 verändert? Worauf mussten Sie bezüglich der Stimmung im eigenen Land achten?
2006 hiess das Motto «Zu Gast bei Freunden». Mein Tor, das 1:0 beim 4:2 im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica, war glücklicherweise die Initialzündung, dass das Turnier zum Sommermärchen wurde. Damals war die Zeit reif, dass sich Deutschland als Nation so präsentierte. Mit einem gewissen Nationalstolz, der sympathisch und freundlich rüberkam. Jetzt haben sich die Zeiten eben verändert. Die Gesellschaft muss sich den Bedingungen anpassen, um die Stärken von Europa zu erhalten. Bedingungen, die von aussen kommen, wie der vom Menschen gemachte Klimawandel. So ein Turnier muss man nachhaltig gestalten. Der Erwartung vieler junger Menschen, der Gesellschaft, muss man Rechnung tragen.

Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Die Nachhaltigkeit ist ein Schwerpunkt Ihrer Botschaft. Sie zieht sich durch alle Bereiche. Was muss man konkret anders anpacken als bei der überaus erfolgreichen WM 2006?
Die Europameisterschaft 2024 und Nachhaltigkeit sind miteinander verbunden, wie durch die ESG-Strategie der Uefa für die diesjährige EM deutlich wird. Ohne geht es heute nicht mehr. Diese Strategie setzt klare Ziele für Umwelt, Soziales und Governance und strebt danach, das Turnier zu einem Vorbild für nachhaltige Sportveranstaltungen zu machen. Durch die Reduzierung der Umweltauswirkungen, Investitionen in Klimaschutzprojekte und die Förderung sozialer Gerechtigkeit soll die Euro nicht nur ein Fussballfest sein, sondern auch einen Beitrag an Gesellschaft und Umwelt leisten. Beispielsweise werden Massnahmen für die Abfallwirtschaft ergriffen und Investitionen in einen Klimafonds zur Kompensation von Emissionen getätigt. Die Strategie legt auch Wert auf die Förderung gesunder Lebensweisen, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Stärkung der Solidarität durch den Breitensport. Durch transparentes und verantwortungsbewusstes Handeln soll die Euro Standards für nachhaltige Grossveranstaltungen setzen und als Vorbild für künftige Events dienen.

Oje, das ist ein schwerer Stoff, das sind hehre Ziele. Wo gab es bei der Organisation die meisten Schwierigkeiten?
Ich bin seit 2017 für dieses Turnier unterwegs. Nicht nur für die Bewerbung mittels Reisen in andere Länder, um Partner für Deutschland als Ausrichter zu gewinnen. Wenn man dann gewonnen hat, denkt man sich, jetzt hätte man richtig viel Zeit, um das Turnier so vorzubereiten, wie wir uns das vorstellen. Und plötzlich zerrinnt die Zeit in den Händen, schlimmer als sieben Minuten in der Nachspielzeit. Es ist unheimlich mühsam, immer wieder alle ins Boot zu holen. Immer wieder alle zueinanderzuführen. Da sieht man, was für eine grossartige Organisation die Uefa sein kann. Und was für starke Institutionen es in Deutschland gibt. Dass man eine gut funktionierende Polizei, gut funktionierende Stadtverwaltungen, eine gut funktionierende Feuerwehr und Sanitäter hat. Nur so sind Grossveranstaltungen wie diese möglich.

Womit wir wieder bei der Nachhaltigkeit wären. Die Bahn funktioniert nicht immer gut. Mit ihren Verspätungen erntet sie Spott und Hohn. Machen Sie sich Sorgen?
Wir sind in ständigem Kontakt. Es wurden Mobilitätskonzepte entwickelt, die das Prädikat «nachhaltig» verdienen. Wenn ich als Turnierdirektor sehe, welche einfachen Ereignisse zu massiven Verspätungen führen können, zum Beispiel durch freilaufende Tiere auf den Gleisen, was man nicht verhindern kann, ist Nachsicht angebracht. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass die Deutsche Bahn leistungsstark ist.

Wie leben Sie selbst Nachhaltigkeit vor? OK-Chef Franz Beckenbauer ist 2006 mit dem Hubschrauber von Spiel zu Spiel geflogen.
Ich finalisiere gerade meine Reiseplanung zusammen mit Célia Šašić, der Botschafterin der Euro 2024, und wir möchten so viele Spiele wie möglich sehen. Natürlich werden wir überwiegend mit der Bahn reisen. Der Hubschrauber wäre kein gutes Zeichen.

Also anders als beim Kaiser?
Die Präsenz von Franz Beckenbauer, der am gleichen Tag den Besuch mehrerer Stadien plante, hatte ihren Charme. Doch die Zeiten haben sich geändert. Was damals gut war, muss heute nicht mehr gut sein.

Über allem schwebt die Angst vor Terroranschlägen. Welche Vorkehrungen sind da getroffen worden?
Das Thema Sicherheit ist natürlich omnipräsent. Ich habe kürzlich in Berlin auf dem Europäischen Polizeikongress eine Rede gehalten. Ich sehe, dass die Institutionen Uefa, Regierung, Politik und wir eng zusammenarbeiten. Ich habe grosse Anerkennung und tiefen Respekt zum Ausdruck gebracht, weil die Sicherheit, die wir in unserem täglichen Leben als selbstverständlich empfinden, das direkte Ergebnis unermüdlicher Bemühungen ist. Die Leute stehen an vorderster Front, um unsere Gesellschaft zu schützen und unsere Freiheit zu verteidigen. Das ist von unschätzbarem Wert.

Zurück zum Sportlichen rund um die Euro 2024: Was trauen Sie Deutschlands Fussballern zu?
Die Bundesliga ist nach der Premier League die zweitstärkste Liga in Europa. Deutschland ist eine Fussballnation. Zuletzt haben die Siege gegen Frankreich und die Niederlande gezeigt, dass die deutsche Mannschaft starke Spieler hat, dass Bundestrainer Julian Nagelsmann ein Mittelfeld und einen Angriff mit Spielern aufgestellt hat, die alle bei internationalen Topvereinen spielen. Dortmund und Bayern haben eine hervorragende Rolle in der Champions League gespielt. Das gibt Schwung und Selbstvertrauen, um in die Spur zu finden.

Haben Sie sich zwischendurch, zum Beispiel im November nach dem 0:2 gegen Österreich, Sorgen gemacht, dass deutsche Misserfolge die Stimmung der EM beeinträchtigen?
Der DFB, der Bundestrainer, die Mannschaft stehen in der Pflicht, so aufzutreten, dass sich die Fans mit der Mannschaft identifizieren können. Das scheint in die richtige Richtung zu gehen.

Haben Sie Berührungspunkte zu Nagelsmann? Oder gehen Sport und Organisation völlig aneinander vorbei?
Als Turnierdirektor bin ich unabhängig. Ich strebe an, dass das Turnier in allen Bereichen erfolgreich ist. Klar, ich war Kapitän bei der EM 2012 und bei der WM 2014, als wir Weltmeister wurden. Deshalb fühle ich mich schon auch berufen, aus der Vogelperspektive meine Einschätzungen öffentlich zu machen.

Welche Rolle wird die Schweiz in der Gruppe mit Schottland, Ungarn und eben Deutschland spielen?
Die Schweiz hat eine interessante Mannschaft, etliche Spieler sind Rückhalt grosser Klubs. Wie Granit Xhaka beim deutschen Meister Leverkusen. Wie die Torhüter Gregor Kobel bei Dortmund, Yann Sommer beim italienischen Meister Inter Mailand, wie Manuel Akanji beim englischen Champion Manchester City. Ein guter Anlass für ein kleineres Land, über sich hinauszuwachsen. Da entsteht in dieser taktisch versierten Mannschaft ein vielversprechendes Niveau. Die Schweiz kann für Deutschland zum gefährlichen Gegner werden, noch dazu im letzten Gruppenspiel, wenn es vielleicht um alles geht. Die Schweiz kann abwartend spielen, hat jedoch die Qualitäten, die man braucht.

Philipp Lahm

Turnierdirektor und Weltmeister Philipp Lahm wurde am 11. November 1983 in München geboren. Er wuchs an der Seite seiner Mutter, Jugendleiterin des FT Gern, mit dem Fussball auf und wechselte als Elfjähriger zum FC Bayern, wo er 2017 seine Karriere beendete. Zwei Jahre war er an den VfB Stuttgart (2003 bis 2005) ausgeliehen. Als Linksverteidiger beziehungsweise Mittelfeldspieler wurde er mit Bayern achtmal deutscher Meister, 2013 Champions-League-Sieger und als Kapitän der Nationalmannschaft 2014 Weltmeister. Lahm gilt als kritischer Zeitgeist. Der Vater von zwei Kindern gründete die Philipp Lahm Stiftung für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Er ist seit 2018 OK-Chef der Euro 2024 in Deutschland.

Turnierdirektor und Weltmeister Philipp Lahm wurde am 11. November 1983 in München geboren. Er wuchs an der Seite seiner Mutter, Jugendleiterin des FT Gern, mit dem Fussball auf und wechselte als Elfjähriger zum FC Bayern, wo er 2017 seine Karriere beendete. Zwei Jahre war er an den VfB Stuttgart (2003 bis 2005) ausgeliehen. Als Linksverteidiger beziehungsweise Mittelfeldspieler wurde er mit Bayern achtmal deutscher Meister, 2013 Champions-League-Sieger und als Kapitän der Nationalmannschaft 2014 Weltmeister. Lahm gilt als kritischer Zeitgeist. Der Vater von zwei Kindern gründete die Philipp Lahm Stiftung für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Er ist seit 2018 OK-Chef der Euro 2024 in Deutschland.

Abgesehen von den Deutschen – auf welche drei Spieler freuen Sie sich besonders?
Ich freue mich auf Mannschaften, nicht auf Spieler. Weg vom Trend nach Individualisierung, hin zum Teamgeist, zu Überraschungen. Ich freue mich auf die Fans, auf das Eröffnungsspiel Deutschland – Schottland in München, auf die schottischen Fans mit ihren innovativen Gesängen (sie sind Urheber des Kult-Stadionsongs «You Never Walk Alone» / Anm. d. Red.), auf ausgelassene Menschen.

Wer könnte überraschen?
Es wäre schön, wenn es eine Mannschaft gäbe wie 2016 bei der EM in Frankreich die Isländer, die im Achtelfinal England besiegten. Warum soll nicht wieder einer der sogenannten Kleinen überraschen? Wie Österreich. Oder eben die Schweiz.

Mal ehrlich: Stünden Sie nicht lieber auf dem Platz, als im feinen Anzug auf der Ehrentribüne zu sitzen?
Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass ich den Absprung gut geschafft habe. Ich habe keine Entzugserscheinungen. Ich bin froh, dass ich andere Erfahrungen machen kann, auch als Unternehmer. Dennoch gibt es Momente, in denen ich die Kabine vor und nach dem Spiel vermisse. Mit einer Mannschaft zusammen zu sein, das war schon sehr schön.

Wie sieht Ihre Zukunft nach der Euro aus? Bleiben Sie dem Fussball treu?
Fast sechs Jahre war und bin ich mit der Organisation und Repräsentation der Euro beschäftigt. Ich sehe mich jetzt nicht unmittelbar als Trainer, will dem Fussball jedoch erhalten bleiben. Ich habe reichlich Erfahrungen sammeln können. Das macht mir Spass.

Und wo und wie wollen Sie das umsetzen?
Was aus meiner jetzigen Tätigkeit entsteht, das weiss ich noch nicht. 

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?