Es gibt in Deutschland – entgegen aller Erwartungen – Institutionen, die noch unpünktlicher sind als die Deutsche Bahn. Toni Kroos zum Beispiel. Mit 35-minütiger Verspätung tritt der Superstar vor die Medien. Einige der rund 200 Journalisten vertreiben sich die Zeit am Pingpong-Tisch. Andere diskutieren hitzig über die Frage, ob Kroos der grössere Spieler sei als Lothar Matthäus.
Dünnes Eis. Weil Matthäus von hier, dem Quartier der Deutschen, stammt. Aus dem fränkischen Herzogenaurach. Weil er Welt- und Europameister ist. Mit 150 Länderspielen Rekordhalter. Und doch gibts nicht wenige Stimmen, die Kroos vor Matthäus sehen. Weil der Franke den Henkelpott kein einziges Mal gestemmt hat und Kroos mit sechs Champions-League-Pokalen an die Heim-EM reist.
Geniessen konnte der Real-Star den Finaltriumph gegen Dortmund aber nicht wirklich. Weil der totale Fokus auf dem Eröffnungsspiel gegen Schottland liegt. «Wir warten seit 2016 auf einen Sieg im ersten Gruppenspiel», sagt Kroos. Wohlwissend, wie wichtig ein Erfolg zum Turnierstart für den weiteren Verlauf sein wird. Seit acht Jahren ist die grosse Fussballnation nicht mehr weiter als ins Achtelfinal gekommen. Wohl auch deshalb, weil Kroos, das Mittelfeldhirn, der Taktgeber, lange Zeit nicht mehr aufgeboten worden ist.
Aufschwung untrennbar mit Kroos verbunden
Kroos kann sich wohl auch deshalb einen Spruch nicht verkneifen. Auf die Frage, ob seine Kinder am Freitag gegen Schottland im Stadion sein werden, sorgt der 34-Jährige mit seiner Antwort für Lacher: «Nach der Taktik haben sie nicht gefragt, aber sie erwarten natürlich einen Sieg. Sie sind sehr erfolgsverwöhnt. Auch, weil sie in letzter Zeit nicht viel von der Nationalmannschaft mitbekommen haben.»
Unter Ex-Coach Hansi Flick, der nicht auf den langjährigen Real-Star setzte, ging die WM in Katar komplett in die Hose. Erst seit Julian Nagelsmann übernommen hat, gehts in Deutschland wieder bergauf, ist eine Aufbruchstimmung erkennbar.
Und die ist untrennbar mit Kroos verbunden. Lange Zeit wurde der zentrale Mittelfeldspieler im eigenen Land verkannt. Erst seit er weg war, wissen alle, wie wichtig er für Deutschland ist. Auf die Frage, wie schwierig es in Sachen Anerkennung ist, wenn man im Ausland spielt und nicht in der Bundesliga, antwortet Kroos: «Wenn man in Spanien spielt, ist man von der Bildfläche weg. Wie viele Spiele über 90 Minuten habt ihr von Real gesehen?»
Schlimm sei das aber nicht, sagt Kroos. Er wünsche sich aber, dass die Bewertung fair und faktenbasiert sei. 34 (!) Pokale hat Titel-Toni in seiner Karriere gewonnen, zum Fussballer des Jahres wurde er in Deutschland bloss ein einziges Mal gewählt. In diesem Jahr kommt wohl ein weiterer hinzu. Unabhängig davon, ob Kroos seine Karriere mit dem EM-Titel beendet oder nicht.
Calmund: «Toni wird mal ein gemütlicher Dicker»
Was danach kommt, ist noch nicht klar. Reiner Calmund, der legendäre Manager von Bayer Leverkusen, sagte mal, dass Kroos nach seiner Karriere «ein gemütlicher Dicker» werde. Julian Nagelsmann sagte hingegen jüngst, dass er «einen Mann aus Stahl» spüre, wenn er Kroos umarme.
Die Wahrheit liegt – wie so oft im Leben – in der Mitte. «Man wird zwar einen Tick älter und lernt seinen Körper kennen, aber athletischer bin ich nicht geworden», sagt Kroos. Und auch nicht schneller. «Ich habs mir zwar vorgenommen, aber es hat nicht funktioniert.» Luka Modric, Kroos' kongenialer Partner bei Real, sagt: «Der Fussball ist immer schneller geworden, aber bei Toni sieht immer noch alles in Zeitlupe aus.»
Mit dem verspäteten Beginn der Pressekonferenz hat das Ganze aber nicht zu tun. Sondern mit Coach Julian Nagelsmann. Der hat länger trainieren lassen als geplant. Vor dem Eröffnungsspiel am Freitag gegen Schottland zählt jede Minute auf dem Rasen.