Geht es nach Granit Xhaka, reist die Nati am Montag bestens gerüstet in ihr EM-Camp in Stuttgart. Der Captain, mit 125 Länderspielen in den Beinen Schweizer Rekordspieler, sagt nach dem 1:1 gegen Österreich: «Ich habe schon lange keine Schweizer Nati mehr so dominant spielen sehen wie wir in der ersten Halbzeit. Gegen einen so guten Gegner. Das kommt gut an der EM, davon bin ich überzeugt.»
Eine Ansage vom Anführer, die die Messlatte hochlegt. Eine Ansage aber auch, in der viel Kalkül drinsteckt. Und die man nicht überinterpretieren darf. Erstens wäre Xhaka ein schlechter Captain, würde er eine Woche vor dem ersten Gruppenspiel alles schlecht reden. Zweitens ist der Wert von Testspielen immer mit Vorsicht zu geniessen.
Das Fachgebiet bleibt ein Sorgenkind
Fakt ist: Wie die Nati gegen Österreich auf das frühe Gegentor reagiert, spricht für ihren Charakter und macht Mut für die EM. Kein Händeverwerfen, kein in sich zusammenfallendes Kartenhaus – sondern mit jeder Minute wachsende Dominanz. Das war in der Vergangenheit schon mal umgekehrt. So gesehen ist Xhakas Sichtweise zuzustimmen. Aber die wichtigste Disziplin im Fussball ist immer noch das Toreschiessen. Und dieses Fachgebiet war, ist und bleibt das Sorgenkind.
Der Ausgleich durch Silvan Widmer in der 26. Minute ist eine Kopie der zahlreichen Angriffe in der ersten Halbzeit über links. Nur: Enden zuvor alle Versuche mit Fehlpässen oder technischem Versagen, erlaubt sich dieses Mal Ösi-Goalie Heinz Lindner einen Lapsus, indem der frühere Sion-, FCB- und GC-Goalie den harmlosen Schuss von Ruben Vargas nach vorne prallen lässt. Direkt vor die Füsse von Widmer, der geistesgegenwärtig den Ball im Netz unterbringt. Ein Fehlgriff vom gegnerischen Schlussmann (Lindner: «Den Ball muss ich festhalten») und als Torschütze ein gelernter Verteidiger – symptomatisch für das laue Lüftchen in der Nati-Offensive.
Erkenntnis: Österreich ist nicht Estland
Nach dem 4:0 am Dienstag gegen Estland durften sich die Angreifer noch auf die Schulter klopfen. Die Schweizer Harmlosigkeit gegen EM-Geheimfavorit Österreich relativiert den Kantersieg gegen die inferioren Osteuropäer. Ausser bei seinem Fehlgriff ist Lindner kein weiteres Mal gefordert. Besser wirds auch nach der Einwechslung von Noah Okafor und Xherdan Shaqiri nicht, beide bleiben wie Zeki Amdouni und Dan Ndoye beinahe alles schuldig. Bei Shaqiri zeigt sich einmal mehr: Die Jokerrolle behagt ihm nicht – entweder ganz oder gar nicht.
Und defensiv? Lässt sich Nati, allen voran Nico Elvedi, schon in der 5. Minute nach einem Ndoye-Fehlpass übertölpeln, als Christoph Baumgartner in der eigenen Spielhälfte lossprintet und 80 Meter später alleine vor Yann Sommer das 1:0 erzielt. «Da ist alles falsch gelaufen», sagt Murat Yakin über den Fauxpas. Betrachtet die Szene aber als Betriebsunfall, denn in der Folge kann auch Österreich sich keine Grosschancen mehr herausspielen.
Der Nati-Trainer mit Blick auf die EM: «In der Abwehr und im Mittelfeld stimmen die Automatismen, sind wir eingespielt. Vorne wird für die Startelf gegen Ungarn das Momentum eine wichtige Rolle spielen. Die Abläufe müssen noch besser werden und wir werden an der EM auf die individuelle Klasse angewiesen sein.» Wie wahr!