Es liegt nicht an den Deutschen. Es liegt an uns.
Die Nati spielt am Sonntagabend in Frankfurt gegen Deutschland und es ist gar keine Frage: Das ist unser Spiel des Jahres. Kein Sieg kann jemals süsser schmecken als einer gegen Deutschland.
Wer Deutschschweizer ist und Fussball mag, guckt Bundesliga. Hat dort einen Lieblingsklub und Lieblingsspieler. Zum Beispiel den BVB, zum Beispiel Niclas Füllkrug, den Mann mit der Zahnlücke, der als Spätzünder zum Nationalspieler wurde. Schöne Geschichte.
Unseren Nati-Spielern gehts genauso. 19 der aktuellen 26 Kaderspieler kicken in Deutschland oder haben dort einst gespielt. Nationaltrainer Murat Yakin stand bei Lautern und in Stuttgart unter Vertrag. Man ist sich nah. Sprache verbindet, Fussball auch.
Steht aber ein Länderspiel an, ist alles anders. Dann geschehen seltsame Dinge. Spielt Füllkrug für den DFB, wird er für viele Schweizer zum Bösewicht. Der deutsche Fussball-Kommentator, den wir letzte Woche noch unterhaltsam fanden, nervt plötzlich mit seinen flotten Sprüchen. Kult? Pah.
Dafür gibt es Gründe: Jahrzehntelang spielten die Deutschen einen furchtbaren, aber erfolgreichen Fussball. Traten total arrogant auf. Der Tiefpunkt war erreicht, als Toni Schumacher 1982 den Franzosen Patrick Battiston brutalstmöglich plattwalzte und sich danach keiner Schuld bewusst war.
Das kommt natürlich nicht gut an in einem Land wie der Schweiz, wo man im Zweifel einmal mehr Entschuldigung sagt und dann dafür die Faust im Sack macht.
Der wahre Grund aber ist für uns Schweizer ein bisschen unangenehm: Wir haben einen Minderwertigkeitskomplex. Wir sind der kleine Nachbar. Wir gucken ARD, ZDF und RTL, hören Helene Fischer und deutschen Gangsterrap, lächeln gequält über Mario Barth.
300’000 Deutsche leben in unserem Land und sind, natürlich, geschätzte Mitglieder der Gemeinschaft. Die Statistik verrät: Schweizer heiraten häufiger deutsche Frauen als jede andere ausländische Nationalität (bei den Schweizerinnen liegen nur die Italiener vor den Deutschen). Die unsägliche Deutschen-Debatte aus den Nullerjahren ist ganz weit weg. Spätestens seit der WM 2006 ist bekannt, dass Deutschland einen optimistischen Fussball spielen kann, ein wunderbarer Gastgeber ist und ehrenvoll verlieren kann. Wo ist also das Problem?
Nun: Umgekehrt sind wir für die meisten Deutschen nicht furchtbar interessant. Wer in Hamburg, Berlin, München schaut schon SRF? Sven Epiney, Stress und Mani Matter? Kennt da kein Mensch. Für die nördlichen Nachbarn sind wir eine Feriendestination, ein Schoggilieferant und irgendwie herzig, weil wir so langsam Hochdeutsch reden und dabei noch das «r» rollen.
Im Fussball rechnet man sowieso nicht mit uns. Gut, dass unsere Liga Super League heisst und es darin einen Klub gibt, der Young Boys heisst, das findet man lustig. Ein Länderspiel gegen die Schweiz ist für die Deutschen eine Pflichtaufgabe.
Eigentlich auch verständlich. Der letzte Schweizer Sieg in einem Pflichtspiel gegen Deutschland: 1938 schlug die Nati-Auswahl der Schweiz die Nazi-Auswahl von Grossdeutschland im WM-Achtelfinal im Pariser Prinzenpark 4:2. Seither gabs Pleiten, Klatschen, ab und zu eine Ehrenmeldung in einem Test wie 2012, als Eren Derdiyok beim 5:3-Erfolg im Basler St. Jakob-Park einen Hattrick erzielte. Sportlich ist der Fall glasklar: Wer als Nati-Spieler gegen Deutschland als Sieger vom Platz geht, macht sich unsterblich.
Am Ende geht es also um eins: Wir hätten gerne etwas Aufmerksamkeit. Die bekommen wir am Sonntag ab 21 Uhr. Mit einem Sieg hätten wir es dem grossen Bruder, dem Nachbarn, dem Freund gezeigt. Besser gehts nicht.
Aber keine Angst: Sobald Niclas Füllkrug wieder in Schwarz-Gelb aufläuft, ist alles wieder okay. Ist die EM vorbei, schauen wir am Samstag wieder die «Sportschau» und am Sonntagabend den «Tatort». Natürlich in der ARD. Es liegt ja nicht an den Deutschen. Es liegt an uns.