Ein Problem? Weisen alle von YB weit von sich. Ein Thema? Nicht mal das. Dass im Cupfinal einer im Tor des Meisters steht, der erst in einem Monat 21 wird, wird teamintern nicht mal diskutiert. In anderen Klubs und bei anders tickenden Personen als Marvin Keller würde dies für Schüttelfrost-Anfälle sorgen.
Woher kommt das?
Routinier Sandro Lauper (26) versucht den Charakter des in London geborenen Keller zu skizzieren: «Er ist speziell, das mal sicher. Sein Selbstvertrauen ist für einen 20-Jährigen sehr gesund. Und er macht es sehr gut. In den Trainings und nun auch in den Spielen.» Doch das mit dem Selbstvertrauen, wie äussert sich das? «Vielleicht, weil er Zürcher ist?», fragt sich Lauper selber. Und lacht. Dort sei man doch lauter, oder? Auch diese Frage: rhetorisch. «Und», fügt der Mann aus dem beschaulichen Konolfingen BE (5500 Einwohner) hinzu, «Marvin ist laut als Goalie. Aber das brauchts ja wohl.»
Hatte Wicky eine Vorahnung?
Braucht es, ja. Und in seinen drei bisherigen Meisterschaftseinsätzen konnte man sich davon überzeugen. Vom Selbstvertrauen des jungen Mannes. Von der Lautstärke. Und von der Selbstverständlichkeit, mit welcher eine Symbiose zwischen Goalie und Team entstand. Geplant war es natürlich nicht, dass Keller im Cupfinal im Tor steht. Ursprünglich war ja David von Ballmoos (28) die Nummer eins, doch der musste sich im März am Knie operieren lassen. Dann vertritt ihn Anthony Racioppi (24) prima. Doch der verletzt sich am 25. Mai in Lugano am Meniskus. Ob Trainer Raphael Wicky eine Vorahnung hatte, als er Keller in den beiden Spielen zuvor seine beiden ersten Super-League-Einsätze ermöglicht? Oder war es einfach purer Professionalismus?
Jedenfalls zitiert Wicky seiner Nummer zwei am Donnerstag vor dem Spiel in sein Büro. Keller, so erzählt er es der «Berner Zeitung» später, hatte eine Vorahnung. Und verliess den Raum mit einem breiten Grinsen. Der Bubentraum würde sich erfüllen. Er tat es. Und Keller spielt gegen den FCZ, wie wenn nichts wäre. Keine 31'500 Fans im ausverkauften Wankdorf. Nicht der abtretende Meister als Gegner. Alles geht von selbst.
Das Ein-Minuten-Blick-TV-Interview
Danach bilanziert Keller in seinem ersten Interview mit Blick TV staubtrocken und in Kürzestsätzen: «Es war unglaublich, vor unseren unglaublichen Fans das Debüt zu geben. Dementsprechend war es super.» Dies war Antwort eins. Antwort zwei: «Ich hatte nicht viel zu tun. Das Tor war sicher schwierig.» Und Antwort drei, zur Frage nach dem Penalty: «Es ist ärgerlich. Aber er war sehr platziert und von daher schwierig.» Und noch Antwort vier hinterher: «Ich habe am Donnerstag, zwei Tage vor dem Spiel, erfahren, dass ich spiele.» Und Antwort Nummer fünf: «Das Ziel des Trainers war es, mir mein Debüt zu ermöglichen.» Das wars. Das ganze Interview. Keine Minute. Schauen Sie es sich an. Und Sie wissen alles …
Die Torwart-Handschuhe vom Markt
Keller wird in London geboren und wächst im Kanton Aargau auf. Seine ersten Erfahrungen als Goalie macht er beim FC Mutschellen. Ins Tor steht er, weil ihm sein Vater aus Spass auf einem Markt ein Paar Goalie-Handschuhe gekauft hatte. Klein Marvin zog diese Dinger dann nur noch aus, wenn er musste, und hechtete damit auf dem Bett herum, wie er in der «BZ» erzählt. Ein Jahr später, als Siebenjähriger, meldet ihn sein Vater bei GC an, wo er alle Nachwuchsstufen durchläuft. Bis er im Sommer 2021 bei den Hoppers keine Perspektive mehr sieht und zu Wil geht, wo er nach vier Spielen die Nummer eins wird und diese bleibt, bis YB im Winter anklopft, weil Keller a) hochtalentiert ist und man b) ein Backup für Racioppi brauchte.
Gemeinsam mit Saipi an die U21-EM-Endrunde
Im Herbst 2022 gibt er sein Debüt in der U21-Nati. Dort, wo ein gewisser Amir Saipi (22) seit Sommer 2021 die Nummer eins ist. Und nun stehen beide im Aufgebot für die EM-Endrunde in Rumänien. Zuvor aber sind sie Kontrahenten. Saipi und der Junge, von dem der kaum ältere YB-Star Fabian Rieder (21) sagt: «Marvin ist eine coole Socke. Als Typ. Als Goalie.»
Gegen das starke Lugano wird er seine ganze Coolness brauchen.