Herr Klinsmann, waren Sie heute schon im Helikopter?
Jürgen Klinsmann: Nein, tatsächlich noch nicht (lacht). Warum meinen Sie?
Es ist doch Ihr grosses Hobby …
Das stimmt. Das ist es immer noch. Ich fliege jede Woche. Das bereitet mir an meinem Wohnort in Los Angeles einen riesigen Spass. Normalerweise haben wir immer schönes Wetter. Im Jahr kommen wir hier auf 300 Sonnentage. Und in 500 Metern Höhe über die Stadt und die atemberaubende Landschaft zu fliegen, bereitet jede Menge Freude.
Wie haben Sie die Leidenschaft fürs Helikopterfliegen für sich entdeckt?
Vor 15 Jahren habe ich mich erkundigt, wie man das lernen kann. Am John Wayne Airport, etwa 45 Minuten südlich von Los Angeles, habe ich dann die ganze Theorie gelernt und alle Prüfungen abgelegt. Damit habe ich mir einen Bubentraum erfüllt. Da ich immer Pilot werden wollte. Dann wurde ich halt Fussballer.
… was definitiv keine schlechte Wahl war. Klinsmann zählte Ende der 1980er und in den 1990ern zu den besten Stürmern der Welt. Dreimal wurde er als bester Fussballer des Jahres ausgezeichnet. Zweimal in Deutschland (1988, 1994) und einmal in England (1995). Darüber hinaus stehen reihenweise Trophäen in seinem Palmarès. Mit Deutschland wurde er Welt- (1990) und Europameister (1996). Mit Inter gewann er den Uefa Cup, und mit Bayern München wurde er Deutscher Meister und triumphierte ein zweites Mal im Uefa Cup.
Am Dienstag kommt es in den Champions-League-Viertelfinals zum Aufeinandertreffen zwischen Bayern und Inter. Was bedeuten Ihnen die beiden Klubs?
Mit dem Herzen bleibt man als Fussballer an allen durchlebten Stationen hängen. Mit allen Erfahrungen, ob gut und schlecht, die man gesammelt hat. Deshalb fühle ich mich mit beiden Klubs immer noch sehr verbunden.
Wie haben Sie reagiert, als klar war, dass es in der Champions League zu diesem Duell kommt?
Ich fand und finde es schade, dass die beiden Teams so früh im Turnier aufeinandertreffen. Weil beide in diesem Jahr das Zeug haben, die Champions League zu gewinnen.
Wirklich?
Absolut. Bei Inter sehe ich die Entwicklung der letzten Jahre sehr positiv. Sie sind mit Trainer Simone Inzaghi enorm gereift, weshalb sie auch den Anspruch an sich selber haben, nach der grossen Krone zu greifen. Und bei Bayern spielt sicherlich eine grosse Rolle, dass der Final in München ist. Da wollen sie unbedingt dabei sein. Das macht Kräfte frei.
Wen sehen Sie im Vorteil?
Inter, weil sie in Vollbesetzung sind. Bei den Bayern sind viele verletzt. Das schwächt halt schon. Ich hoffe vor allem, dass Manuel Neuer spielen kann – auch nur das Rückspiel. Das wäre wichtig.
Im Tor von Inter wird sicher Yann Sommer spielen. Bei den Bayern wurde er wegen seiner Körpergrösse kritisiert. Was haben Sie davon gehalten?
Ich bin ein grosser Fan von Sommer. Der Fokus, den er hat, die Ruhe, die er ausstrahlt, ist klasse. Zudem ist er in allen Merkmalen, die ein Goalie braucht, gut. Entsprechend habe ich über die Kritik damals nur geschmunzelt.
Und in Mailand belehrt er seine Kritiker in München alle eines Besseren.
Ich gönne es ihm von Herzen. Als täglicher Leser der «Gazzetta dello Sport» kriege ich die grosse Bewunderung der Italiener für Sommer mit. Das hat er sich so was von verdient.
Wechseln wir von ganz hinten nach ganz vorn. Bevorzugen Sie als ehemaliger Weltklassestürmer den Bayern-Sturm um Harry Kane oder Inters Doppelspitze mit Lautaro Martínez und Marcus Thuram?
Wenn du die Chance hast, mit zwei Vollblutstürmern zu spielen, dann entscheide ich mich immer für diese Variante. Lautaro und Thuram bilden ein klasse Duo. Das macht Spass, ihnen zuzuschauen. Das liegt aber auch an meiner Vergangenheit. Ich habe es immer genossen, mit einem starken Partner an der Seite zu spielen. Ob das jetzt mit Rudi Völler in der Nationalmannschaft war oder bei Inter mit Aldo Serena, bei Tottenham mit Teddy Sheringham und bei den Bayern erst mit Ruggiero Rizzitelli und dann mit Jean-Pierre Papin.
Wie schon in der ganzen Saison wird Thomas Müller in diesem Duell wohl nur eine Nebenrolle spielen. Nachdem wochenlang über seinen auslaufenden Vertrag diskutiert worden ist, wurde am Samstag bekannt, dass Müller Bayern München im Sommer verlassen wird. Wie sehen Sie seine Zukunft?
Es ist normal, dass das rauf und runter diskutiert wurde. Thomas ist ein viel zu grosser Spieler für uns Deutsche. Das eigene Karriereende zu bestimmen, ist ohnehin eines der schwierigsten Themen für einen Fussballer. Ich habe das selbst auch an mir gesehen. Du musst irgendwann mit dir ins Reine kommen und dir eingestehen, dass du nicht mehr der bist, der du vor zwei oder vier Jahren warst. Letztlich ist es so, dass die Entscheidung immer der Spieler zu treffen hat.
Wird er noch weiterspielen?
Ich hoffe es und könnte mir einen Wechsel in die MLS vorstellen. Ähnlich wie es Marco Reus getan hat. Er ist körperlich und auch mental noch immer topfit. Was mich freuen würde, wenn er nach seiner Aktivkarriere zum FC Bayern zurückkehren und dort eine wichtige Funktion übernehmen würde.
Sie stehen am Ursprung von Müllers eindrücklichen Karriere, weil Sie ihn sowohl in der Bundesliga als auch in der Champions League debütieren liessen.
Deswegen bin ich auch ein grosser Thomas-Fan. An das Spiel in der Champions League gegen Sporting Lissabon erinnere ich mich noch gut. Ich wechselte ihn gut 20 Minuten vor Ende für Bastian Schweinsteiger ein. Und kurz danach traf er zum 7:1-Schlussstand.
Wie haben Sie Müller damals entdeckt?
Das weiss ich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich stand auf dem Trainingsplatz der 2. Mannschaft und tauschte mich mit Gerd Müller aus, der mein grosses Kindheitsidol war und zu jener Zeit als Co-Trainer der zweiten Mannschaft arbeitete. Da fragte ich ihn, ob er mir jemanden empfehlen könne. Da entgegnete er mir: «Den Thomas. Er heisst halt auch lustigerweise Müller. Aber den kann ich dir nur empfehlen.» Wenige Tage später bin ich mit Uli Hoeness zu einem Spiel, wo wir uns schnell einig waren, dass dieser Junge einer für die Zukunft sein kann. Von da an trainierte er mit der 1. Mannschaft. Und wir sagten uns, wenn es die Möglichkeit gibt, dann schmeissen wir ihn rein.
Thomas Müller erzählte einmal in einem Podcast, dass er kurz vor einem Transfer zu Hoffenheim stand, weil Sie ihn nicht hätten brauchen können. Ist das wahr?
Das ist das erste Mal, dass ich das höre. Das stimmt nicht.
Stehen Sie noch in Kontakt mit ihm?
Hie und da läuft man sich über den Weg. Aber das sind immer kurze Momente. Ausführlich haben wir seither nie miteinander zu tun gehabt. Das ändert nichts daran, dass ich seinen Weg bei den Bayern und mit der Nationalmannschaft verfolgt habe. Und es ist ein Traum, was er durchlebt hat.
Die Müller-Debatte hat in München für die erste wirkliche Unruhe der Saison gesorgt. Was kein Vergleich zum Vorjahr darstellt. Wie gross ist dabei der Verdienst von Trainer Vincent Kompany?
Es ist toll zu sehen, wie er sich rein auf den Fussball konzentriert. Alles andere lässt er nicht an sich ran, sondern überlässt es den anderen Leuten beim FC Bayern. Ich glaube, das gibt der Mannschaft Ruhe. Sodass sie sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Und das ist in diesem Jahr klar: nämlich Leverkusen wieder hinter sich zu lassen und in der Champions League anzugreifen. Das sind die Ansprüche.
Wie denken Sie an die eigene schwierige Zeit 2008/09 auf der Trainerbank der Bayern zurück?
Klar, es waren turbulente Zeiten. Wenn man aber zurückschaut, denkt man immer an das Positive. Es war enorm lehrreich. Und das dank allen Beteiligten, die dort am Werk waren.
Aktuell sind Sie seit einem Jahr ohne Trainerjob. Vor einem Jahr wurden Sie als Nationaltrainer Südkoreas entlassen. Wie erlebten Sie die Zeit in Asien?
Es war faszinierend. Diese Lebenserfahrung möchte ich auf keinen Fall missen. Ich habe viel dazu- und vor allem den asiatischen Fussball kennengelernt. Nur das Ende war ein sehr trauriges. Zumal wir einen Vertrag bis zur WM 2026 hatten, einen Dreijahresplan ausgearbeitet hatten und die Mannschaft echt gut ist und was draufhat. Deshalb ist es sehr schade, wie es geendet hat.
Erzählen Sie.
Wir waren im Februar 2024 auf gutem Weg, den Asia Cup zu gewinnen. Zum ersten Mal seit 60 Jahren. Doch am Vorabend des Halbfinals gegen Jordanien gingen zwei Spieler aufeinander los. Dabei kugelte Kang-in Lee seinem Teamkollegen Heung-min Son das Fingergelenk aus. Da kann man sich gar nicht vorstellen, was da abging. Völlig verrückt. Innerhalb weniger Sekunden flog der Team-Spirit aus dem Fenster, und wir wussten, dass das Turnier vorbei ist. Wir verloren dann tatsächlich gegen Jordanien. Und der Verband entliess uns mit der Begründung, wir hätten den Streit erahnen müssen.
Fühlen Sie sich inzwischen wieder bereit, um an eine Seitenlinie zu stehen?
Der Wunsch ist absolut da, eine Mannschaft an eine Weltmeisterschaft zu führen. Ich habe inzwischen so viel Erfahrung und weiss, worum es geht, was wichtig ist und was unwichtig ist. Ein solches Abenteuer würde mir grossen Spass bereiten. Zumal jetzt die WM in Amerika ist, wo ich zu Hause bin.
Gab es mal die Möglichkeit, in der Schweiz oder für die Schweiz zu arbeiten?
Nein, das stand nie zur Diskussion. Aber ich beobachte den Schweizer Fussball seit langem. Nicht nur die in diesem Jahr völlig verrückte Liga, in der gar keine Logik dahinter ist. Sondern auch die Nati. Die Europameisterschaft war klasse. Und sowieso ist es bewundernswert, was die Schweiz im letzten Jahrzehnt für Spieler hervorgebracht hat: Sommer, Xhaka und wie sie alle heissen.
Das war zu Ihren Zeiten noch anders. Sie haben aber gleich mit zwei der damaligen Schweizer Aushängeschilder Ciriaco Sforza und Alain Sutter zusammengespielt. Stehen Sie mit ihnen noch im Austausch?
Mit «Ciri» ist der Kontakt leider etwas eingeschlafen. Alain ist ein super Typ. Ich muss ihn nach diesem Gespräch gleich mal wieder anrufen. Ich mag ihn ungemein. Er ist ein ganz feiner Mensch.
Sutter war es auch, der Ihren Sohn Jonathan im Sommer 2019 zum FC St. Gallen holte. Allerdings blieb er damals ohne Einsatz in der Super League. Dafür ist er jetzt in Italiens Serie B Stammkeeper bei Cesena und spielt um den Aufstieg.
Er hat sich Schritt für Schritt nach vorne gearbeitet. Er ist mit seinen fast 28 Jahren in sich gereift. Und bringt eigentlich als Torwart alles mit, was es braucht. Deswegen hat ihn ja Alain Sutter auch zu St. Gallen geholt.
Ist Jonathans Debüt in der amerikanischen Nationalmannschaft eine Frage der Zeit?
Er ist im Blickfeld der Verantwortlichen. Vor Covid war er schon zweimal im Aufgebot. Und momentan wird in Amerika über die Goalieposition gross debattiert. Jetzt muss er in Cesena weiter mit guten Leistungen auf sich aufmerksam machen. Damit er sein grosses Ziel der WM-Teilnahme erreichen kann.
Und wenn Sie noch einen Job bei einem der 48 WM-Teilnehmer kriegen, dann hätten wir zwei Klinsmanns aus zwei Generationen an einer Weltmeisterschaft. Das wär ein Ding.
Lassen wir uns überraschen. Vielleicht kommt noch was.