Lieber Roger, ich möchte heute mit dir über Clay Regazzoni reden. Welche Adjektive fallen dir spontan zu ihm ein?
Roger Benoit: Schüchtern, bescheiden, superschnell, lustig, unzerstörbar.
Wie habt ihr euch kennengelernt?
Das weiss ich nicht mehr genau. Clay war ein Spätzünder und kam erst mit gut 30 Jahren in die Formel 1. Wir hatten sehr schnell ein gutes Verhältnis, und er lud mich regelmässig zu sich und seiner Familie nach Lugano ein. Sein Vater war Gemeindepräsident von Porza, auf dessen Gebiet die Resega liegt. Einmal liess er um Mitternacht während eines Eishockeyspiels das Licht abschalten und erklärte: «Nach Mitternacht gibt es in Porza keine Sportveranstaltungen mehr.»
In welcher Sprache habt ihr euch unterhalten?
Auf Französisch. Clay konnte nur zwei Sätze auf Deutsch: «Tessiner sind lustig» und «Was machst du mit dem kleinen Finger, Hans?» Das sagte er jeweils zu Niki Lauda, wenn dessen Hände auf Abwegen waren …
Er kennt die Formel 1 wie kein anderer Journalist: Blick-Reporter-Legende Roger Benoit. Seit 1967 schreibt er für Blick, ab 1970 vorwiegend über die Formel 1. Mittlerweile hat er von über 808 Rennen berichtet, verfasste rund 90 GP-Berichte aus Zürich und war bei rund 1000 Testtagen dabei.
In unserer Serie «Auf eine Zigarre mit Blick-Benoit» blickt der heute 75-Jährige auf über ein halbes Jahrhundert Formel-1-Erfahrung zurück. Frauen, Partys, Streiche – was der leidenschaftliche Zigarrenraucher in dieser Zeit erlebt hat, ist heute unvorstellbar. Hier erzählt er nun regelmässig seine besten Anekdoten. Und zwar so, wie man ihn kennt (und fürchtet): direkt, ehrlich, pointiert.
Er kennt die Formel 1 wie kein anderer Journalist: Blick-Reporter-Legende Roger Benoit. Seit 1967 schreibt er für Blick, ab 1970 vorwiegend über die Formel 1. Mittlerweile hat er von über 808 Rennen berichtet, verfasste rund 90 GP-Berichte aus Zürich und war bei rund 1000 Testtagen dabei.
In unserer Serie «Auf eine Zigarre mit Blick-Benoit» blickt der heute 75-Jährige auf über ein halbes Jahrhundert Formel-1-Erfahrung zurück. Frauen, Partys, Streiche – was der leidenschaftliche Zigarrenraucher in dieser Zeit erlebt hat, ist heute unvorstellbar. Hier erzählt er nun regelmässig seine besten Anekdoten. Und zwar so, wie man ihn kennt (und fürchtet): direkt, ehrlich, pointiert.
Regazzoni bekam schnell einmal den Spitznamen «Der Unzerstörbare» verpasst. Zu Recht?
Ja, seinen ersten schweren Unfall hatte er schon 1968 in der Formel 3. Damals raste er in Monte-Carlo unter die Leitplanken. Er überlebte nur, weil er rechtzeitig den Kopf eingezogen hatte. Und was machte er danach? Er winkte dem Publikum zu, während die Spitze seines Boliden ins Meer ragte.
Auch 1973 in Kyalami hatte Regazzoni das Glück beansprucht.
Damals ging nach einem Crash sein BRM in Flammen auf. Er überlebte nur, weil Mike Hailwood anhielt, die Gurte löste und ihn rauszog. Ich besuchte danach Clay im Krankenhaus. Als ich ins Zimmer kam, musste ich mich wegen des Spitalgeruchs zuerst mal übergeben.
Wie reagierte Regazzoni darauf?
Er hat wie ein Wahnsinniger gelacht.
1977 verging ihm wohl das Lachen. Als er zum ersten Mal am legendären Indy 500 teilnahm, crashte er im Training erneut spektakulär.
Im Auto gab es damals einen Schalter, mit dem man die Radaufhängung zwischen «soft» und «stiff» verändern konnte. Dumm nur, dass die Amis einfach bei beiden Schalterpositionen ein «s» hingeschrieben hatten. Zwischen Turn 3 und 4 legte Clay deshalb den Hebel falsch um, flog ab und überschlug sich sechsmal. Wie in Indianapolis üblich kam sogleich die Ambulanz, doch er wollte zuerst nicht einsteigen, bis sie ihm mit der Disqualifikation drohten. Doch das Beste kommt noch.
Erzähl!
Abends ging ich mit ihm und Teamchef Teddy Yip bei einem Italiener essen. Auf dem Tisch lag eine Geschenkbox, vielleicht 50 mal 50 Zentimeter klein. Als Regazzoni fragte, was das ist, antwortete Yip: «Das ist ein Geschenk vom Team an dich.»
Was war drin?
Sein demoliertes Auto. Die hatten das durch die Verschrottungspresse durchgelassen, und am Ende blieb nur noch dieses kleine Häufchen übrig.
Regazzoni hatte aber nicht nur viele Unfälle, sondern war auch ein begnadeter Rennfahrer. 1974 wäre er gar beinahe Weltmeister geworden.
Clay war wirklich gut. 1974 war er auf Ferrari und Emerson Fittipaldi auf McLaren punktgleich ans letzte Rennen nach Watkins Glen gereist. Doch im Rennen zuvor hatte Clay in Kanada einen mysteriösen Unfall gehabt, und seitdem spukte sein Ferrari. In Watkins Glen wurde Fittipaldi zwar nur Vierter, doch das reichte, weil Regazzoni gar nur Elfter wurde.
Grund zum Feiern hatte Regazzoni aber 1979 in Silverstone. Damals gewann dank ihm der Williams-Rennstall seinen ersten GP.
Sein Teamkollege Alan Jones wurde in der Zeit intern ganz klar bevorteilt. Als Regazzoni siegte und ich anschliessend mit ihm hinter den Boxen allein feierte, kam die Frau von Teamchef Frank Williams auf uns zu und entschuldigte sich dafür, dass das Team sich gar nicht richtig über Regazzonis Sieg freute.
Wie ging Regazzoni damit um?
Mit Humor. Er meinte nur: «Das nächste Mal bleibe ich einfach auf der Strecke stehen. Das passt ihnen vielleicht besser.»
Zwei Monate später sorgte ein Geschenk von Williams erneut für Kopfschütteln.
Während des GP von Italien feierte Regazzoni seinen 40. Geburtstag. Und was machte das Team? Es schenkte ihm einen Rollstuhl mit vier Formel-1-Reifen dran. So etwas Dummes hat man in der Formel 1 noch selten gesehen, denn ein Jahr später sass Regazzoni tatsächlich im Rollstuhl, und Teamchef Frank Williams erwischte es 1986.
Regazzoni verunglückte am 30. März 1980 in Long Beach schwer. Welche Erinnerungen hast du an diesen Tag?
Damals fuhren fast alle schon mit Titanbremsen, doch weil Ensign-Teamchef Mo Nunn Geld sparen wollte, fuhren seine Fahrer noch mit Stahlbremsen. Als bei Regazzonis Fahrzeug in der 51. Runde deshalb das Bremspedal brach, fuhr er voll in den Notausgang rein, wo links ein Brabham parkiert war, und kollidierte nahezu ungebremst mit dem Boliden. Der damalige Rennleiter Dan Gurney kam ins Pressezentrum und sagte nur: «Da kann man nichts mehr machen. Der ist tot.» Doch er war nicht tot, weil er ja eben der Unzerstörbare war.
Du warst danach fast drei Wochen lang bei ihm im Spital.
Als ich ihn drei Tage nach dem Unfall das erste Mal besuchen konnte, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett und schaute durch eine kleine Öffnung auf den Boden. Also legte ich mich auf dem Rücken liegend unter sein Bett und konnte mich so mit ihm unterhalten.
Ihr habt in der Zeit auch oft Backgammon miteinander gespielt.
Clay wurde alle drei Stunden gedreht, vom Bauch auf den Rücken und wieder umgekehrt. Immer wenn er auf dem Bauch lag, spielten wir Backgammon.
Nach drei Wochen kam er nach Basel ins Paraplegikerzentrum.
Während der Zeit sagte er einmal plötzlich zu mir: «Hast du Lust auf eine Spritztour durch Basel?» Regazzoni hatte einen umgebauten Jaguar organisiert, und mit dem fuhren wir dann mit offenen Fenstern durch Basel. Die Leute, die ihn dabei erkannten, konnten es gar nicht glauben.
In der Zeit hiess es schon, dass Regazzoni wohl nie mehr laufen könne. Konnte er das akzeptieren?
Es fiel ihm schwer. Er hörte dann von einem Wunderheiler aus Washington, Professor Kao von der Georgetown University. Er fragte mich: «Roger, kommst du mit? Ich will mir das mal anschauen.» Wenige Tage später sassen wir gemeinsam im Flugzeug und flogen mit einer Concorde in 3 Stunden und 20 Minuten von Paris nach Washington.
Und was sagte Kao?
Als er ihn untersucht hatte, meinte er nur: «Welcher Mensch hat diesen Mann behandelt?» Als Regazzoni nach Basel kam, hatte er offenbar eine Rückenverkrümmung von 8 Grad, doch als ihn Kao untersuchte, waren es schon 32 Grad.
Du hast damals getitelt: «Der Krieg der weissen Götter!»
Ich bin ja kein Experte, aber einige meinten, dass Guido A. Zäch in Basel nicht alles richtig gemacht hat. Kao sagte sogar: «Wenn Regazzoni direkt zu mir gekommen wäre, hätten wir ihn sofort wieder zum Laufen gebracht.»
Hat Regazzoni damit gehadert?
Manchmal schon, aber er hat trotzdem oft gelacht. Einmal sagte mir Clay in Washington, ich solle mich mal in seinen Rollstuhl setzen und einen Wheelie machen. Ich flog dabei nach hinten weg und der Rollstuhl auf mich drauf. Exakt in dem Moment kam Professor Kao ins Zimmer rein und sagte nur: «Hoffentlich sind nicht alle Schweizer so verrückt.» Ausserdem übernahm ich während unserer Zeit in Washington für Clay den Telefondienst. Er sagte mir: «Wenn das Telefon läutet, nimmst du ab und sagst Hallo Herr Meier.» Sobald ich jeweils den Namen gesagt habe, hob er den Daumen hoch oder runter. Ging er nach unten, sagte ich: «Tut mir leid, er ist in der Therapie.»
In einem Dokfilm über Regazzoni hast du vom «Krieg der Blumen» gesprochen.
Sein ganzes Zimmer war voll mit Sträussen. Irgendwann liess er die Krankenschwestern alle antanzen und sagte: «Jede darf sich einen Strauss aussuchen.» Dabei gingen zwei leer aus, und es gab Streit. Er aber blieb gelassen und meinte nur: «Kommt in zwei Tagen wieder, dann hat es wieder viele neue.»
In Washington hast du noch ein spezielles Foto gemacht.
Clay sagt mir: «Ich will dir etwas zeigen.» Dann zog er sich Beinschienen an, nahm zwei Krücken und lief auf dem Gang hin und her. Dabei machte ich Fotos, doch er sagte mir: «Wenn du diese Bilder veröffentlichst, bringe ich dich um.» Mit anderen Worten: Clay konnte ein bisschen laufen, war aber im Rollstuhl viel schneller.
2006 hast du ihn wenige Monate vor seinem Tod in Menton besucht.
Auch dort stand er plötzlich auf, und die Blick-Fotografin durfte ihn so fotografieren. Er war damals aber schon ein bisschen verbittert und sagte: «Die Formel 1 hat mich vergessen.»
Am 15. Dezember 2006 starb er bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von Parma.
Seine Tochter sagte damals: «Er fuhr mit 300 km/h durchs Leben und starb mit 80.» Das stimmte, er hatte übrigens auf seinem Grundstück auch Schilder mit Tempo 300 aufgestellt.
Wenn du heute auf Clay zurückblickst, woran denkst du? Niki Lauda sagte mal: «Er hat keine Party ausgelassen.»
Apropos Lauda, die zwei haben sich immer geneckt, mochten sich aber. Beide konnten die Unterschrift des anderen sehr gut nachmachen. Wenn sie in Hotels essen und feiern gingen, fälschten sie immer die Unterschrift des anderen und liessen die Rechnung auf dessen Zimmernummer schreiben. Niki nannte Clay übrigens immer «Jakob».
Zurück zu meiner Frage: War Regazzoni ein Playboy?
Sagen wir es so: Er war sicher einer, der das Leben genossen hat und der bei Partys bis zum Schluss blieb. Mehr sage ich nicht, ich kann dir aber noch meine Lieblingsszene mit Clay erzählen.
Schiess los.
Kyalami Ranch 1975. Da ich im Zimmer kein Licht hatte, stellte ich hinter meine geliebte Hermes-Schreibmaschine eine Kerze und ging ins Bad. Plötzlich gab es ein komisches Geräusch, und als ich ins Zimmer zurückkam, war der hintere Teil der Schreibmaschine angeschmort. Also nahm ich die Schreibmaschine und rannte mit ihr nackt auf den Balkon. Exakt in dem Moment lief unten Clay vorbei, schaute verdutzt und schrie hoch: «Roger, das ist ein Bild, das ich nie mehr vergessen werde.»