Zehn Jahre danach: Fünf Silberhelden erinnern sich an die WM 2013
Der falsche Busfahrer brachte Trainer Simpson aus dem Konzept

Was für Silberschmied Sean Simpson und die Silberhelden Nino Niederreiter, Julian Walker, Philippe Furrer und Raphael Diaz die WM 2013 so besonders gemacht hat.
Publiziert: 08.05.2023 um 10:39 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2023 um 11:12 Uhr
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Wie verschworen die Einheit und besonders die Gruppendynamik beim WM-Turnier 2013 in Stockholm war, wird von allen Silberhelden immer wieder betont.
Foto: freshfocus
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Nicole VandenbrouckReporterin Eishockey

Sean Simpson: «Glücksbringer-Wort und Grogg-Nachrichten»

«Ich kann nicht glauben, dass es schon zehn Jahre her ist. Das waren noch Zeiten, in denen der Viertelfinal das Ziel war. Einen gewonnen hatte die Schweiz bis dahin nie. Dass wir es dann bis in den Final schafften, war so unglaublich. Dadurch werden wir Involvierte uns ein Leben lang verbunden bleiben.

Ich hatte früh so ein Bauchgefühl, dass hier etwas wachsen könnte. Darüber geredet habe ich aber nicht. Dass wir gleich die ersten Spiele gegen die grossen Nationen Schweden, Kanada und Tschechien gewonnen hatten, beflügelte uns. Es war eine grossartige Truppe mit starken Leadern. Der Spirit war perfekt. Der Viertelfinal-Sieg gegen Tschechien war eine riesige Erlösung, und uns wurde bewusst, dass wir um eine Medaille spielen werden. Das Halbfinal-Duell gegen die USA war eines der besten Spiele überhaupt. Denke ich an diese Momente zurück, spüre ich die Emotionen wieder.

Drei besondere Erinnerungen von so vielen möchte ich erwähnen. Zum einen meine Ansprache vor dem Halbfinal-Match. Mein persönliches Wort für diese WM war: speziell. In jeder Rede war es enthalten. Es entwickelte sich für mich zu einer Art Glücksbringer. Die Ansprache vor dem USA-Spiel habe ich nicht vorbereitet. Die Worte kamen aus dem Herzen. Ich sagte den Spielern, dass es das Spiel des Lebens werden könnte. Dass der damalige Video-Coach die Rede aufgenommen hat, wusste ich nicht. Aber sie ist heute noch Teil meiner Vortrags-Präsentation.

Dann die Hymne. Weil mir im Vorjahr aufgefallen war, dass nicht alle mitsingen, übten wir den Text und das Singen in den Camps. Ich wollte, dass alle stolz die Hymne singen. Vor dem ersten Spiel erreichte uns dann die Nachricht, dass die Hymne nach den Gruppenspielen nicht ertönt, sondern erst nach den K.-o.-Spielen. Deshalb standen wir nach den Siegen in der Garderobe im Kreis zusammen und sangen den Schweizerpsalm zusammen.

Und schliesslich noch Stefan Grogg. Ich wollte, dass der einige Jahre zuvor an ALS erkrankte Ex-Nati-Spieler Teil des Teams wird, er bekam einen Team-Anzug. Wir zeigten der Mannschaft vor dem Turnier ein Video von ihm. Es berührte sie, einige hatten ja noch mit ihm gespielt. An der WM gab es im Hotel und in der Garderobe eine Pinnwand für seine inspirierenden Nachrichten, die er mir jeweils mailte. Alle lasen sie.

Mein Traum war immer, in meiner Trainerkarriere meine Spuren zu hinterlassen und den National-Teams und Klubs einen Stempel aufzudrücken. Das ist mir gelungen.»

Sean Simpson (63) amtete von 2010 bis 2014 als Headcoach der Schweizer Nati. Auch im Schweizer Klubhockey war er tätig (Zug, ZSC, Kloten, Fribourg). Zuletzt stieg er mit Ungarns Nati, von der er bis 2022 Trainer war, in die A-Gruppe auf.

Nino Niederreiter: «Busfahrer musste getauscht werden»

«Von der WM 2013 reden alle immer vom Silber-Jahr. Wenn ich zurückdenke, beeindruckt mich zuerst etwas anderes: Dass wir neun Spiele in Serie gewonnen haben. Diese Leistung schätze ich am meisten.

Vor der Abreise an die WM fragte uns Trainer Sean Simpson, wieso alle nur immer ans Erreichen des Viertelfinals denken und warum nicht mal an eine Medaille. Nach dem gewonnenen Eröffnungsspiel gegen Schweden nahm die Euphorie in der Schweiz Fahrt auf. Mein Vater, der als Schlosser arbeitet, durfte unsere Spiele im Geschäft schauen.

Wir waren hingegen in unserer eigenen Welt. Ich teilte das Zimmer mit Roman Josi. Wir hatten es lustig, sangen zusammen oft das Lied ‹Guantanamera›, kreierten einen neuen Text dafür und nahmen dabei Videos von uns auf. Ich war der Jüngste im Team, kam aber mit allen gut aus. Mit meinen Sturmpartnern Simon Moser und Martin Plüss hat sich eine Freundschaft entwickelt.

Was allen Spielern an jenem Turnier aufgefallen ist, ist der starke Aberglaube von Trainer Sean Simpson. Er hatte seine Rituale, lief zum Beispiel immer die genau gleichen Wege. Eine Veränderung brachte ihn völlig aus dem Konzept: Wir hatten immer den gleichen Chauffeur für unseren Team-Bus. Als an einem Matchtag plötzlich ein anderer Busfahrer hinter dem Lenkrad sass, machte Simpson so lange einen grossen Wirbel und tobte, bis der Fahrer durch unseren gewohnten Chauffeur ausgetauscht wurde.»

Nino Niederreiter (30) ist Stürmerstar in der NHL bei den Winnipeg Jets. Er ist einer der wenigen Nati-Silberhelden, die 2013 und 2018 dabei waren.

Julian Walker: «Alles war ein Bonus für mich»

«Wenn ich zurückdenke, kommt mir eine wunderbare Zeit in den Sinn. Die Gefühle waren unvergleichlich, die Anerkennung riesig. Was wir erreicht haben, wurde mir allerdings erst zwei, drei Jahre später so richtig bewusst.

Ich war in der WM-Vorbereitung von Anfang an dabei. Wir waren viele junge, hungrige Spieler. Ich kam aus einer enttäuschenden Saison bei Servette, in der ich mich durchbeissen musste, nicht viel Eiszeit bekam und kritisiert wurde. Deshalb rechnete ich überhaupt nicht damit, es bis ins WM-Kader zu schaffen.

Darum hatte ich unsere Ferien schon gebucht. Meine heutige Frau Manuela und ich wollten in die USA fliegen, von New York runter nach Florida fahren und uns von dort aus eine Kreuzfahrt gönnen. Doch ich blieb Woche für Woche im Team dabei, und wir mussten die Ferien verschieben.

Manuela war zu dieser Zeit schwanger mit unserer ersten Tochter. Weil ich mir keine WM-Chancen ausrechnete, traute ich mich, Trainer Simpson zu fragen, ob ich sie zu unserem ersten Ultraschall begleiten dürfte. An einem Matchtag. Ich durfte, ausnahmsweise. Und so fuhr ich von Lausanne nach Bellinzona zum Arzttermin. Auch darum bleibt mir 2013 immer in spezieller Erinnerung, weil einige Monate nach dem Silber-Gewinn Leonie geboren wurde.

Im Team passte einfach alles zusammen, vor allem menschlich. Das machte den Erfolg aus. Was mich besonders beeindruckt hat, war das vorbildliche Verhalten der Ersatzspieler wie Dario Bürgler, Thibaut Monnet oder Tobias Stephan. Sie zogen voll mit.

Für mich persönlich lief es vielleicht so gut, weil ich alles als einen Bonus ansah nach der verkorksten Meisterschaft. Und so schoss ich an meiner ersten WM im Halbfinal ein Tor gegen die USA. Also ich musste einfach Mosers guten Pass verwerten, so viele Tricks habe ich ja nicht auf Lager. Es war eine unglaubliche Zeit.»

Julian Walker (36) nahm an drei WM-Turnieren teil. Der Stürmer ist derzeit beim HC Lugano unter Vertrag.

Die Schweizer Eishockey-Medaillen

1928 Olympia St. Moritz Bronze

1930 WM Chamonix/Berlin Bronze

1935 WM Davos Silber

1937 WM London Bronze

1939 WM Zürich/Basel Bronze

1948 Olympia St. Moritz Bronze

1951 WM Paris Bronze

1953 WM Zürich/Basel Bronze

2013 WM Stockholm/Helsinki Silber

2018 WM Kopenhagen/Herning Silber

1928 Olympia St. Moritz Bronze

1930 WM Chamonix/Berlin Bronze

1935 WM Davos Silber

1937 WM London Bronze

1939 WM Zürich/Basel Bronze

1948 Olympia St. Moritz Bronze

1951 WM Paris Bronze

1953 WM Zürich/Basel Bronze

2013 WM Stockholm/Helsinki Silber

2018 WM Kopenhagen/Herning Silber

Philippe Furrer: «Eine Luftmatratze gekauft»

«Das war für mich eine der perfektesten Mannschaften. Die Zahnräder liefen ineinander. Es zeigte, was möglich wird, wenn alle zusammen in die gleiche Richtung gehen. Jeder von uns besass ein Puzzle-Teil. In einer bestimmten Phase in der Garderobe, immer vor dem Warm-up, setzte jeder sein Teil ein und vervollständigte damit die Landkarte der Schweiz. In dieser Gruppendynamik wurde jeder Spieler noch besser.

Der Glücksmoment nach dem gewonnenen Halbfinal gegen die USA war jenseits. Rückblickend kann man vielleicht sagen, dass unsere Zielsetzung mit einer Medaille zu wenig präzise war. Wenn ich vergleiche, mit welcher Einstellung die Nati fünf Jahre später ins Final-Duell ging: Gold gewinnen zu wollen.

Nach unserer Final-Niederlage gegen die Schweden waren wir betrübt. Erst als wir im Flugzeug sassen Richtung Heimat und erfuhren, wie viele Leute auf uns warten am Flughafen, realisierten wir unseren Erfolg.

Auf einer Autofahrt werde ich gefühlsmässig heute noch ab und zu in diese Garderobe katapultiert. Denn auf meiner Playlist habe ich immer noch das Lied gespeichert, das unser DJ Josi vor und nach den Spielen aufgedreht hat: ‹Ode to Oi› von TJR. Da konnte keiner ruhig auf seinem Platz sitzen bleiben.

Auch eine Anekdote zum Schmunzeln gibts: Ich musste mir in Stockholm eine Luftmatratze kaufen, weil ich im Hotelbett so schlecht schlief. Ich war mir von zu Hause ein Wasserbett gewöhnt. Als ich dann die Luftmatratze unter die andere schob, schlief ich viel besser.»

Philippe Furrer (37) war an sechs WM-Turnieren dabei, spielte zuletzt vier Jahre für Fribourg und trat 2022 als Hockeyprofi zurück. Der Ex-Verteidiger ist heute Teilhaber der Immoseeker AG und SRF-Hockey-Experte.

Raphael Diaz: «Ich musste mich anpassen»

«Als die WM begann, spielte ich mit Montreal noch die NHL-Playoffs. So gut wie möglich habe ich die Spiele und Resultate der Nati verfolgt. Den Penalty-Sieg gegen Kanada sah ich sogar live im Teambus. Nach unserem Playoff-Out stiess ich als letzter Nachrücker zum Team für die letzten zwei Gruppenspiele.

Ich spürte sofort, wie ich in eine Mannschaft kam, die einen Lauf hat, den niemand kaputt machen sollte. Und ihre Routinen, die niemand stören sollte. Mir war bewusst, dass ich mich anpassen muss. Es ging ums Team. Weil ich so spät dazugestossen bin, blieb für mich nur noch ein Einzelzimmer übrig. Das war etwas speziell für mich. Fünf Jahre später hingegen, beim WM-Silber 2018, war ich der Team-Älteste und froh übers Einzelzimmer.

Der speziellste Moment war für mich die Medaillen-Übergabe. Klar, wir hatten den Final verloren. Aber so viele Jahrzehnte hatte die Schweiz keine WM-Medaille mehr gewonnen, es war so überwältigend, die Medaillen zu sehen und zu bekommen.»

Fribourg-Verteidiger Raphael Diaz (37) war von 2016 bis 2022 der Captain der Schweizer Nationalmannschaft.

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