Auf einen Blick
- Mike Tyson besiegte seine Gegner nicht, er zerstörte sie
- Doch den frühen Ruhm konnte der Boxer nicht verkraften
- Er stürzte furchtbar ab und erfand sich mehrmals neu
- Nun wagt er gegen Jake Paul den Kampf der Generationen
Mike Tyson konnte nicht stillstehen, als er am 22. November 1986 vor Trevor Berbick im Boxring stand. Er wippte mit dem Oberkörper hin und her, während der Ringrichter die Regeln des Kampfs erklärte. Unter der Hose brannte es unerträglich. Tyson hatte sich in den Tagen vor dem Kampf bei einer Prostituierten den Tripper eingefangen.
Keine sechs Minuten dauerte das Duell. Mit einer Linken haute Tyson Berbick in der zweiten Runde auf die Bretter. Der Weltmeister versuchte dreimal aufzustehen, doch die Beine versagten. Berbick war nicht bloss besiegt und entthront, sondern zerstört worden. Von einer Kampfmaschine, die gerade mal 20 Jahre und 145 Tage alt war. «Ich war ein Tier», sagte Tyson 25 Jahre später dem «Spiegel», «darauf dressiert, alles auszuschalten, was sich bewegt. Mein Trainer sagte: ‹Mike, fass!› Und schon bin ich los.»
Jüngster Weltmeister
Michael Gerard Tyson krönte sich mit dem K.o. gegen Berbick zum jüngsten Weltmeister in der Geschichte des Schwergewichts und verbreitete in der Folge als Iron-Mike bei seinen Gegnern Furcht und Schrecken. Er machte keinen Hehl aus seinen bösen Absichten. Er sprach von seiner Sehnsucht, das Trommelfell eines Gegners zu zerstören, seinen Willen zu brechen, ihn wie eine Frau weinen zu lassen. Er gab zu, dass er es geniesse, wenn seine Schläge Herz, Leber oder Niere des Kontrahenten treffen – lebenswichtige Organe. Tyson wurde zum «Baddest Man on the Planet», der seine Gegner auslöschte und eine Karriere nach der anderen beendete. Er war mit solcher Urkraft ausgestattet und mit einem solch aussergewöhnlichen Kampf-Instinkt gesegnet, dass er als Boxer zum Grössten hätte werden können. Doch Tyson vermasselte es.
Kommentar zu Tyson
Mit dem Ruhm konnte er nicht umgehen. «Ich war zu jung, alles ging viel zu schnell, ich hatte keine Chance, mich zu entwickeln. Ich war ein Arschloch, ein Spinner, ein Verrückter, ein besessener Irrer, ein Psychopath, ein hemmungsloses Stück Scheisse.» Auf die Frage, welcher sein bester Schlag gewesen sei, den er je ausgeteilt habe, sagte Tyson: «Das war, als ich mit Robin kämpfte. Sie hat mich wirklich beleidigt, und es machte ‹bam›, und sie flog rückwärts und schlug gegen jede verdammte Wand in der Wohnung.» Robin Givens war ein Fernsehstar und Tysons erste Frau. 1988 sagte sie in einer TV-Sendung neben ihrem Mann sitzend, dass ihre Ehe die «pure Hölle» und Tyson manisch-depressiv sei. Ein Jahr später waren die beiden geschieden.
Rettung und Verdammnis
Mike Tyson ist in New York in Brownsville, Brooklyn, geboren. Eine harte Gegend. Mit elf hatte er bereits gesoffen, geraucht, gestohlen. Seine Mutter ging auf den Strich, sein Vater, ein Zuhälter, verliess die Familie früh. Mit 13 kam Tyson in eine Schule für Schwererziehbare, wo er mit Boxen begann. Der legendäre Trainer Cus D'Amato erkannte sein Talent, holte ihn von der Strasse, nahm ihn in sein Haus auf, adoptierte ihn und machte aus ihm eine spektakuläre Kampfmaschine, die zwar offensiv und aggressiv boxte, aber auch grandiose Defensivqualitäten hatte. «Safety first!», predigte sein Förderer.
Tyson hat 2017 ein Buch über D'Amato geschrieben, den er wie einen Vater geliebt, aber auch gefürchtet hatte. Ein herrschsüchtiger, selbstgerechter Mann sei er gewesen, der seinen Zögling nicht nur aufbaute, sondern bleibend psychisch beschädigte. Im Buch schreibt Tyson auch, wie er eine Erektion bekam, jedes Mal, wenn ihn jemand als bedrohlich und gefährlich bezeichnet habe, und er gibt zu, in seinem Leben unendlich viel Mist gebaut zu haben.
1992 wurde er wegen Vergewaltigung einer jungen Frau zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Bis heute bestreitet er, die Tat begangen zu haben. Doch sass er dafür drei Jahre ab, bevor er wegen guter Führung entlassen wurde. Er sei jetzt ein besserer Mensch, sagte er, als er wieder in Freiheit war. Da hatte er zwanzig Kilo abgenommen, ist zum Islam konvertiert und nannte sich Malik Abdul Aziz. Im Gefängnis habe er seine Zeit mit dem Studium des Korans, von Machiavelli, Voltaire, Dumas und kommunistischer Literatur verbracht, berichtete er der Weltpresse, die seine Freilassung als Rettung des langweilig gewordenen Schwergewichtsboxens feierte.
Von seinen bis dahin 42 Profikämpfen hatte er nur einmal nicht gesiegt. 1990 ging er sensationell gegen 1:42-Aussenseiter Buster Douglas k.o. Da war er schlecht vorbereitet, sein Lebenswandel desaströs, die Schatten und Geister in seinem Kopf wurden immer grösser und mächtiger. Nun war er scheinbar geläutert wieder bereit, in den Ring zu steigen. Nach seinem Comeback brauchte er fünf Kämpfe, bis er wieder auf dem Weltmeister-Thron Platz nehmen konnte. Das war im Mai 1996, ein halbes Jahr später wurde er von Evander Holyfield entthront und entehrt.
Tyson erledigt sich selber
Denn im Rückkampf wurde es blutig. Provoziert durch etliche unsaubere Kopfstösse von Holyfield biss Tyson zweimal zu. Zuerst schnitt er seine Zähne ins linke Ohr, danach biss Tyson Holyfield ein Stück des rechten Ohrs ab. Der Skandal war perfekt. «Holyfield soll froh sein, dass ich ihm nicht die Kehle durchgebissen habe», schimpfte Tyson. Er wurde disqualifiziert, und man nahm ihm für eineinhalb Jahre die Boxlizenz weg.
Sein zweites Comeback umfasste noch zehn Kämpfe, darunter den WBC-WM-Kampf 2002 gegen den Champion Lennox Lewis – ein Kassenschlager. Die Pressekonferenz Monate zuvor, die den Kampf anpreisen sollte, artete zum Fiasko aus. Tyson liess sich von den Beleidigungen provozieren, ging auf Lewis los. Die beiden prügelten sich, wälzten sich am Boden, dabei biss Tyson dem Weltmeister in den Oberschenkel. Auch WBC-Präsident José Sulaiman, damals 71-jährig, bekam im Gerangel Prügel ab. Tyson hat ihn ausgeknockt, angespuckt und ihm mit dem Tod gedroht. Sulaiman musste sich mehreren Operationen unterziehen, weil zahlreiche Zähne gebrochen waren.
Das Duell, das in Las Vegas hätte stattfinden sollen, wurde verschoben und verlegt. Die beiden trafen zwei Monate später in Memphis aufeinander. Er werde Lewis das Herz herausreissen und dessen Kinder fressen, tönte Tyson vor dem Kampf. Aber der Weltmeister war im Ring klar überlegen und entschied das Duell nach acht Runden vorzeitig und eindeutig. Tysons Ruf? War dahin. Der Mann hatte sich selber erledigt.
Doch heute, 19 Jahre nach seinem Rücktritt, ist der Ruf nach Tyson wieder da. Der Kampf gegen den Youtuber Jake Paul, der am Freitag (2 Uhr MEZ) in Arlington, Texas, über die Bühne gehen wird und dort wohl an die 80'000 ins AT&T-Stadion lockt, trifft offenbar einen Nerv der Zeit. Die Affiche verzückt nicht nur Tyson-Nostalgiker, sondern auch die junge Generation, die vielen Follower von Jake, die Tyson zwar nie boxen gesehen haben, ihn aber aus Rollen in Filmen wie «Hangover» cool finden.
Jake Paul ist im Jahr geboren, als Tyson sich an den Ohren von Holyfield zu schaffen machte. Der Kampf wird exklusiv von Netflix übertragen. Die Streamingplattform erhofft sich neue Abonnenten, die Boxer freuen sich auf eine unmoralisch hohe Summe Geld. Je 20 oder gar 100 Millionen Dollar? Wer will, kann den Zahlen glauben, die da herumgereicht werden. Offiziell gibts dazu keine Auskunft. Fest steht: Tyson tritt mit einer Bilanz von 58 Kämpfen, 50 Siegen, 44 durch Knockout an. Jake Pauls Bilanz: 11 Kämpfe, 10 Siege, 1 Niederlage. Das Resultat des Kampfes wird in die offizielle Boxer-Statistik der beiden eingehen.
Wundermann des Sich-Neuerfindens
Tyson ist inzwischen 58-jährig, zeigt sich zwischendurch gern mit weissem Bart, ist ein Unternehmer und geläuterter Familienvater, seine Geister im Kopf scheinen unter Kontrolle. Er nuschelt und lispelt noch wie früher, aber seine Stimmlage ist tiefer, reifer: «Ich fühle mich wirklich gut, auch wenn ich nicht jeden Tag mit einem Lachen im Gesicht herumlaufe.» Sein Leben ist im Rückblick eine einzige Berg-und-Tal-Fahrt. Er wurde gefeiert, gefürchtet, stinkreich, ausgenutzt, entmenschlicht, gedemütigt, verraten. Er war ganz unten, ein Drogenjunkie, hoch verschuldet. Die Menschen haben über ihn gelacht. Er stieg wieder auf, wurde zum Wundermann des Sich-Neuerfindens: Geschichtenerzähler, Buchautor, Podcast-Moderator, Schauspieler, Grasdealer. Nun zollen ihm die Menschen Respekt.
Es gibt kaum jemanden auf der Welt, der Tysons Gesicht nicht kennt, das seit 2003 ein Maori-Tattoo prägt. Das Porträt von Arthur Ashe, dem ersten schwarzen Wimbledonsieger, hat sich Tyson ebenso tätowieren lassen wie die Konterfeis von Che Guevara und Mao Tse-tung. Auf der Brust ist zudem Tochter Exodus verewigt, die im Alter von vier Jahren bei einem Unfall dramatisch ums Leben kam. Sie hatte sich beim Spielen mit dem Kopf im Kabel eines Laufbands verheddert, aus der sie sich nicht mehr befreien konnte. An diesem Tiefschlag ist Tyson beinahe zerbrochen.
Einer seiner Freunde ist Donald Trump. Kürzlich dinierten sie zusammen in Mar-a-Lago. «Wunderbar», kommentierte Tyson das Treffen der alten Freunde und Ringkameraden. «Ich kenne ihn, seit ich 19 bin.» Wie Trump ist auch Tyson umtriebig unterwegs: Er verkauft «Mike Bites», das sind Cannabis-Gummis in Form von abgeknabberten Ohren. Natürlich eine Anspielung an Holyfield, der bei diesem Projekt mit im Boot sitzt. Tyson wird zudem weiter als Schauspieler tätig sein und Milan Tyson beim Aufbau ihrer angestrebten Tenniskarriere unterstützen. Milan ist die 16-jährige Tochter von Mike und seiner dritten Ehefrau Lakiha Spicer. Mike Tyson hat acht Kinder gezeugt mit vier verschiedenen Frauen. Lakiha sagt: «Er hat mit jeder Sorte Frau geschlafen, die man sich vorstellen kann.»
«Es ist alles Illusion»
Früher hielt er sich auch schon mal Löwen und Tiger als Haustiere, geblieben sind ihm seine geliebten Tauben, die ihn bereits sein ganzes Leben begleiten. Unter ihnen fühlt er sich wohl und geborgen. Tyson glaubt an die Reinkarnation: «Vielleicht werde ich als Taube wiedergeboren.» In diesem Leben möchte er vor allem eins: ein guter Vater sein und noch etwas für die Aufbesserung seines ramponierten Rufs als Boxer tun.
Der Erlös aus dem bevorstehenden Kampf gegen Paul werde sein Leben nicht verändern, sagte er dem «New Yorker» kürzlich. Geld hat er inzwischen wieder mehr als genug. Es gehe ihm um den Ruhm und darum, zu zeigen, dass man mit 58 nicht zu alt ist, um sportliche Höchstleistungen zu vollbringen. Für ihn habe sich nicht viel verändert. «Ich kämpfe gegen Leute. Das ist es, was ich tue.»
Wie ernsthaft das Duell zwischen dem gealterten Hall-of-Fame-Boxer und dem dreissig Jahre jüngeren Youtuber schliesslich ausgetragen wird, lässt sich erahnen. «Boxen ist Schauspielerei», lispelt Tyson. «Wir wollen, dass die Leute denken, wir würden dies tun, und dann tun wir das. Es ist alles Illusion.» Jake Paul hat sich den Kampfnamen «The Problem Child» gegeben. Darüber kann Tyson nur müde lächeln.