Wenn am heutigen Abstimmungssonntag die Stimmenzähler noch fleissig Wahlcouverts sortieren, laufen bereits die Vorbereitungen für den nächsten Urnengang. Am 28. November steht das Covid-Gesetz zur Abstimmung. Eigentlich müsste alles klar sein. Ausser der SVP empfehlen alle Parteien ein Ja, zudem sind heute knapp 64 Prozent der Schweizer mindestens einmal geimpft. Für den Bundesrat müsste es also ein Leichtes sein, eine Mehrheit zu finden. Zumal im Juni 60 Prozent ein Ja einlegten, als das Stimmvolk ein erstes Mal über die Vorlage befand.
Doch es gibt gute Gründe, an dieser Prognose zu zweifeln. Die Gegner sind bereits mobilisiert, sammelten im Sommer innert drei Wochen nach eigenen Angaben über 180'000 Unterschriften. Nötig gewesen wären lediglich 50'000.
Derweil schüren die krawalligen Kundgebungen der Corona-Skeptiker die Emotionen: Während am Donnerstag in Bern die Polizei erneut mit Gummischrot und Wasserwerfer gegen Demonstranten vorging, zog es eine Gruppe Trychler ins freiburgische Belfaux, dem Wohnort von Gesundheitsminister Alain Berset (49, SP). Vor dieser Drohkulisse läuft der Abstimmungskampf an.
Durch die gezielten Provokationen von Finanzminister Ueli Maurer (70, SVP) fühlen sich die Corona-Skeptiker bestätigt. «Die SVP macht wirklich alles für ein paar Wählerprozente», kritisiert Lorenz Hess (60), Berner Nationalrat der Mitte. «Wenn sich Ueli Maurer dafür einspannen lässt und das Kollegialitätsprinzip verletzt, sollen das die Bundesräte unter sich klären. Aber dieser Mann weiss haargenau und besser als die meisten, wie viel uns diese Pandemie gekostet hat.» Das alleine hätte für Maurer Grund genug sein müssen, sich zurückzuhalten.
«Wir Befürworter haben den Auftakt verschlafen.»
Die Gegenseite kommt nur mühsam in die Gänge. Lange drängte sich keine Partei auf, die Kampagne aufzuziehen. Wertvolle Zeit verstrich. «Wir Befürworter haben den Auftakt verschlafen. Dabei ist das Nein-Lager nun noch stärker als im Sommer», stellt Hess fest. Der Berner Nationalrat bestätigt nun aber, dass sich ein Ja-Komitee formiert hat. Die Mitte übernimmt die Organisation.
Neben Hess sind mit den Nationalrätinnen Flavia Wasserfallen (42, SP/BE), Melanie Mettler (43, GLP/BE), Sophie Michaud Gigon (46, Grüne/VD) und Ständerat Josef Dittli (64, FDP/UR) alle Parteien ausser der SVP im Co-Präsidium vertreten. Mit SVP-Exponenten, denen der Kurs der eigenen Partei in der Corona-Krise nicht mehr geheuer ist, laufen Gespräche über ein mögliches Engagement.
In der aufgeheizten Stimmung den Ton zu treffen, ist eine Herausforderung. «Die Kommunikation in diesem Feld ist extrem schwierig. Wir treten mit sachlichen Argumenten gegen die Emotionen der Gegner an», so Hess. Letztlich laufe es auf die simple Botschaft hinaus, das Erreichte nicht zu verspielen und durchzuhalten. «Dass dies manche Leute nicht mehr hören wollen, kann ich verstehen. Dieser Wunsch nach Normalität wird aber dann gefährlich, wenn man glaubt, die Pandemie mit der Aufhebung der Schutzmassnahmen einfach abschaffen zu können.»
In den kommenden Tagen steht die profane Aufgabe an, Geld für den Abstimmungskampf aufzutreiben. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und die Gewerkschaften haben bereits abgewunken, wie die Zeitungen von CH-Media berichteten. Deshalb wird das Ja-Komitee nun bei den Gesundheitsverbänden vorstellig.
Doch selbst wenn das Geld fliessen sollte: Ein Ja ist keineswegs sicher. So glaubt der Obwaldner Ständerat Erich Ettlin (59), die Abstimmung könnte knapp ausfallen. Obwohl er für das Zertifikat sei, werde er sich im Abstimmungskampf nicht an vorderster Front engagieren, sagt der Mitte-Politiker. Und schiebt wie zur Erklärung hinterher: «Obwalden hat das Covid-Gesetz im Juni mit 56 Prozent abgelehnt.» Er dürfte nicht der einzige Politiker sein, der angesichts der aufgeheizten Stimmung darauf verzichtet, sich zu exponieren.
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Das Nein-Komitee verfügt über «mehr als eine halbe Million Franken»
Von solcher Zurückhaltung dürfte die Gegenseite profitieren. Vier Bürgerbewegungen führen gemeinsam eine Nein-Kampagne: Freunde der Verfassung, Mass-Voll, Aktionsbündnis Urkantone und Netzwerk Impfentscheid. Sie starten mit einer gut gefüllten Kriegskasse. Laut Mediensprecher Josef Ender (51) verfügt das Nein-Komitee über «mehr als eine halbe Million Franken», wobei man sich über Spendenaufrufe und Mitgliederbeiträge finanziere.
Nebst Plakaten, Werbung auf Screens in Bahnhöfen und Posts in den sozialen Medien plane man auch Hausbesuche, sagt Ender. Die Botschaft der Massnahmengegner: gegen einen «Impfzwang für alle», gegen Diskriminierung, gegen die Massenüberwachung.
Die hartgesottenen Gegner sind für die Befürworter des Covid-Gesetzes kaum zu erreichen. «Die wirren Demonstranten und die Trychler können wir nie und nimmer überzeugen», sagt Mitte-Nationalrat Hess. «Aber wenn wir gegen diese Typen verlieren, dann haben wir ein gröberes Problem in diesem Land.» Nach 18 Monaten Pandemie ist das Problem aber vielleicht schon heute gröber als gedacht.
Bei der Abstimmung über das Covid-Gesetz geht es um die Änderungen, die das Parlament im März 2021 beschlossen hat. Bei einem Nein zur Vorlage würde nicht nur die Grundlage für das Covid-Zertifikat wegfallen, sondern auch weitere Massnahmen wie die Übernahme der Kosten für Covid-Tests durch den Bund oder die Ausweitung der Härtefallhilfen.